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Psychiatrie und Strafjustiz

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männisch die zeitgenössische Lehrmeinung, wonach ein angewachsenes Ohrläppchen allein noch längst<br />

kein Zeichen einer «Entartung» darstellen musste. 809<br />

Drittens ist anzumerken, dass sich das Kompetenzangebot der <strong>Psychiatrie</strong> keineswegs auf die Beurteilung<br />

der Zurechnungsfähigkeit beschränkte. Wie in Kapitel 8 gezeigt werden wird, anerbot sich die <strong>Psychiatrie</strong><br />

ebenfalls als Institution zur Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung «verbrecherischer Geisteskranker», die die «öf-<br />

fentliche Sicherheit» gefährdeten. Die Analyse der Verwahrungspraxis im Kanton Bern zeigt, dass gegen<br />

r<strong>und</strong> die Hälfte der im Untersuchungszeitraum begutachteten DelinquentInnen sichernde Massnahmen<br />

verhängt wurden. Die Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung führte demnach keineswegs zu<br />

einem Verzicht auf freiheitsentziehende Massnahmen <strong>und</strong> zu einer laxen Strafpraxis, wie von Medikalisie-<br />

rungskritikern immer wieder behauptet wurde. Eine intensivierte Zusammenarbeit mit der <strong>Psychiatrie</strong><br />

erlaubte den Justizbehörden vielmehr, den institutionellen Zugriff auf kriminelles Verhalten auszudiffe-<br />

renzieren <strong>und</strong> effizienter zu gestalten. Die Möglichkeit, geistesgestörte DelinquentInnen im Hinblick auf<br />

die öffentliche Sicherheit auf unbestimmte Zeit zu verwahren, trug zweifellos massgeblich zur Bereitschaft<br />

der Justizbehörden bei, bereits im Strafverfahren auf psychiatrische Begutachtungskompetenzen zurück-<br />

zugreifen.<br />

7.3 Die Herkunft des psychiatrischen Expertenwissens: Praktiken der Informationsbeschaf-<br />

fung <strong>und</strong> -verarbeitung<br />

Nach der Anordnung einer Begutachtung oblag es den psychiatrischen Sachverständigen, die von den<br />

Justizbehörden gestellten Rechtsfragen zu beantworten. In der Praxis bestand die Produktion eines sol-<br />

chen Expertenwissens in der Verknüpfung heterogener Wissensbestände mittels spezifischer Deutungs-<br />

muster. Psychiatrische Gutachten sind demnach das Ergebnis von Prozessen der Informationsverarbei-<br />

tung anzusehen, in deren Verlauf Informationen aus unterschiedlicher Herkunft selektiert, klassifiziert <strong>und</strong><br />

interpretiert werden. Im Zuge dieser Informationsverarbeitung liessen sich die ExplorandInnen als hu-<br />

manwissenschaftliche Wissensobjekte konstituieren, deren Handeln <strong>und</strong> Verhalten durch psychiatrische<br />

Deutungsmuster in spezifische Sinnzusammenhänge gestellt werden konnte. Im Zentrum dieses Unterkapitels<br />

steht zunächst der Aspekt der Informationsbeschaffung. Zu klären ist, aus welchen Quellen die<br />

psychiatrischen Sachverständigen Informationen über den Geisteszustand von StraftäterInnen bezogen,<br />

wie sie diese auswählten <strong>und</strong> inwiefern über diese Selektionsprozesse Elemente heterogener Wissensbe-<br />

stände in das psychiatrische Expertenwissen einflossen. 810 Geht man mit Michel Foucault davon aus, dass<br />

die Produktion eines «Strafwissens» <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Praktiken der Informationsbeschaffung in<br />

unmittelbarer Abhängigkeit von sozialen Machtverhältnissen funktionieren, so stellt sich zudem die Frage<br />

nach den Instanzen, über die Informationen <strong>und</strong> Wissensbestände transferiert, konditioniert <strong>und</strong> stabili-<br />

siert wurden. 811 In einer solchen Perspektive erweist sich die Konstitution eines psychiatrischen Exper-<br />

tenwissens als ein funktional gesteuerter Selektionsprozess, der aufs engste mit administrativen <strong>und</strong> medi-<br />

zinischen Praktiken der Informationsverarbeitung verb<strong>und</strong>en war.<br />

Die eng miteinander verb<strong>und</strong>enen Informationsbeschaffungs- <strong>und</strong> Sinngebungsprozesse widerspiegeln<br />

sich ebenfalls in der diskursiven Struktur der Gutachten, wie sie in der Berner Justizpraxis um die Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ertwende üblich waren. 1891 erschien im Schweizerischen Medicinal-Kalender ein «Schema für forensisch-<br />

809 StAB BB 15.4, Band 125, Verhandlung der Assisen, 14. Oktober 1918; StAB BB 15.4, Band 2095, Dossier 1858, Psychiatrisches<br />

Gutachten über Johannes L., 14. November 1918.<br />

810 Im Anschluss an die Systemtheorie werden hier Informationen als Unterschiede verstanden, die Unterschiede ausmachen, das<br />

heisst von einem bestimmten Bezugssystem als relevante Ausschnitte einer Systemumwelt selektiert werden; vgl. Krieger, 1996,<br />

24f. mit Verweis auf die einschlägige Definition von Gregory Bateson.<br />

811 Vgl. Lemke, 1997, 78-80; Foucault, 1976.<br />

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