13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

spruchs. In der Justizpraxis warf die Verankerung der strafrechtlichen Willens- <strong>und</strong> Verstandessemantik<br />

die Frage auf, unter welchen Umständen StraftäterInnen für ihre Handlungen verantwortlich gemacht<br />

werden konnten. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit ging indes über rein juristische Aspekte hinaus, war doch<br />

die Unterscheidung zwischen DelinquentInnen, die als Rechtssubjekte zur Verantwortung gezogen wer-<br />

den konnten <strong>und</strong> solchen, die als «Wahnsinnige» <strong>und</strong> «Verrückte» vor der Strafe verschont wurden, Be-<br />

standteil eines gesellschaftlichen Normalitätsdispositivs, das daraufhin angelegt war, die Norm des frei von äusseren<br />

<strong>und</strong> inneren Zwängen handelnden (männlichen) Bürgersubjekts zu postulieren. Das Axiom der Willens-<br />

freiheit fungierte dabei als ein «Kernbestand bürgerlicher Identität» (Doris Kaufmann).<br />

Paradoxerweise ging die Verallgemeinerung des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsprinzips mit einer<br />

wachsenden Problematisierung der ihm zugr<strong>und</strong>e liegenden Willenssemantik einher. Namentlich seitens der Ärzte-<br />

schaft, aber auch seitens der Aufklärer, die der «Natur des Menschen» auf die Spur kommen wollten, wur-<br />

de dabei die Existenz von «Gemütszuständen» ins Feld geführt, welche die «Willenskraft» verminderten,<br />

ohne von offensichtlichen Wahnvorstellungen <strong>und</strong> Intelligenzminderungen begleitet zu sein. Die aufge-<br />

klärten Ärzte akzentuierten dabei die von der älteren Gerichtsmedizin vorgebrachte Forderung, dass die<br />

Beurteilung «zweifelhafter Geisteszustände» vor Gericht in die alleinige Kompetenz der gelehrten Mediziner<br />

gehöre. Die Entwicklung kriminalitätsspezifischer Deutungsmuster durch die junge «Seelenheilk<strong>und</strong>e»<br />

stand denn auch in engem Zusammenhang mit solchen Kompetenzansprüchen. Medizinische Deutungs-<br />

muster wie eine «Wut ohne Verkehrtheit» oder eine monomanie homicide erlaubten den «psychischen Ärz-<br />

ten», kriminelles Verhalten auf isolierte Willensstörungen zurückzuführen, die von medizinischen Laien<br />

angeblich nicht zu erkennen waren. Solche Medikalisierungsbestrebungen dienten den Ärzten zugleich<br />

dazu, die Rechtmässigkeit von Gerichtsurteilen in Frage zu stellen <strong>und</strong> eine verstärkte Berücksichtigung<br />

der medizinischen Expertenmeinung im Gerichtsalltag zu fordern.<br />

Die ärztlichen Deutungs- <strong>und</strong> Kompetenzansprüche stiessen vor allem bei Juristen, die in der Strafe in<br />

erster Linie Ausdruck gerechter Vergeltung sahen, auf harsche Kritik, befürchteten sie doch, dass eine<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens zur Unterminierung des gesellschaftstragenden Prinzips der indi-<br />

viduellen Verantwortlichkeit führen müsse. Die daraus resultierenden Grenzdispute zwischen Ärzten <strong>und</strong> Juris-<br />

ten, bei denen die Abgrenzung der disziplinären Zuständigkeiten verhandelt wurden, entschärften sich seit<br />

den 1830er Jahre allerdings insofern, als sich nach <strong>und</strong> nach eine stabile Arbeitsteilung zwischen den beiden Dis-<br />

ziplinen herausbildete, die für die weitere Entwicklung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> bestimmend sein sollte.<br />

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit wurde dabei definitiv zum Angelpunkt für eine strukturelle Koppe-<br />

lung zwischen den Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>. Die liberale Strafgesetzgebung des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts definierte die Zurechnungsfähigkeit in der Regel mittels der psychologischen Begriffe der<br />

Strafeinsicht <strong>und</strong> der Willensfreizeit. Gleichzeitig verpflichtete sie die Justizbehörden, «zweifelhafte Ge-<br />

mütszustände» ärztlich-psychiatrisch untersuchen zu lassen. Im Gegenzug blieb diesen die Würdigung der<br />

Sachverständigengutachten vorbehalten. Solche Gesetzesbestimmungen definierten die Bedingungen,<br />

unter denen künftig eine strukturelle Koppelung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> «Seelenheilk<strong>und</strong>e» stattfinden<br />

konnte. Von zentraler Bedeutung war dabei der Umstand, dass dieses rechtliche Dispositiv eine Infrage-<br />

stellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von DelinquentInnen von vornherein auf Ausnahmefälle<br />

beschränkte <strong>und</strong> dadurch die Norm des selbstverantwortlichen Bürgersubjekts bekräftigte. Gesetzgeber,<br />

Juristen, aber auch die Mehrheit der Ärzte waren sich um die Jahrh<strong>und</strong>ertmitte einig, dass das Gros der<br />

«normalen» StraftäterInnen die Härte eines auf Vergeltung <strong>und</strong> Abschreckung angelegten Strafsystems zu<br />

spüren bekommen sollte.<br />

400

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!