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Psychiatrie und Strafjustiz

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sigkeiten zurückführten. Im Blickfeld der Psychiater mutierten ein «bösartiger Charakter» oder ein «unste-<br />

ter Blick» zu psychopathologischen Symptomen. Aus Glasers «Unglücksmenschen» oder einem «Wüte-<br />

rich» wie Fritz R. wurden dadurch «Grenzer» im Übergangsbereich zwischen «Normalität» <strong>und</strong> Krankheit.<br />

Wie die analysierten Fallbeispiele zeigen, zeichneten sich solche «Grenzfälle» durch mehrere Ambivalen-<br />

zen aus. Sie konstituierten sich einerseits im Spannungsfeld unterschiedlicher Deutungsmuster, wobei die<br />

Perspektiven von medizinischen Laien <strong>und</strong> Psychiatern vergleichsweise häufig auseinander drifteten. 994<br />

Andererseits stand die Genese solcher Deutungsangebote, wie der Fall von Fritz R. beispielhaft verdeut-<br />

licht, oft in engem Zusammenhang mit Definitionsproblemen bei der Bewältigung abweichenden Verhaltens<br />

durch die Behörden. Wie die Fälle von Fritz R. oder Lina H. zeigen, gingen solche psychiatrische<br />

Ausdeutungen abweichenden <strong>und</strong> kriminellen Verhaltens in der Regel mit einer Relativierung der indivi-<br />

duellen Verantwortlichkeit einher. An die Stelle des für seine Handlungen verantwortlichen Rechtssub-<br />

jekts trat dann der in seiner Willensfreiheit beschränkte «Psychopath».<br />

Normalitätsvorstellungen: «Sittliche Selbstführung» <strong>und</strong> Geschlecht<br />

In vielen der untersuchten Fallbeispiele standen soziale Konflikte am Ausgangspunkt von Medikalisie-<br />

rungsprozessen, wobei Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Erwartungen <strong>und</strong> rechtliche Normen<br />

eine zentrale Rolle spielten. Beispielhaft verdeutlich der Fall von Fritz R. eine solche Konfliktsituation, in<br />

die nicht nur er selbst, seine Familie <strong>und</strong> die betroffenen Nachbarn, sondern auch die Gemeinde- <strong>und</strong><br />

Kantonsbehörden involviert waren. Die Intervention der <strong>Psychiatrie</strong> in solchen Konstellationen war in der<br />

Regel mit der Produktion von Deutungen verb<strong>und</strong>en, die abweichendes Verhalten auf ein psychopathologisches<br />

Substrat zurückführten. Gerade das Psychopathiekonzept war daraufhin angelegt, Verstössen ge-<br />

gen soziale Erwartungen <strong>und</strong> rechtliche Normen ein medikalisiertes Gesicht zu geben. In Fällen, wo keine<br />

offensichtliche Zeichen von Geisteskrankheit oder Intelligenzminderungen im Spiel waren, konditionier-<br />

ten soziale <strong>und</strong> geschlechtsspezifische Normvorstellungen deshalb die psychiatrische Begutachtungstätig-<br />

keit oft entscheidend. Massstäbe, welche die Psychiater der Unterscheidung zwischen «Normalität» <strong>und</strong><br />

«Abnormität» zugr<strong>und</strong>e legten, schlossen im Gegenzug eng an psychosoziale Normen wie eine «Harmonie<br />

des Seelenlebens» oder eine «sittliche Selbstführung» an. Solche Massstäbe waren indes das Produkt von<br />

«normsetzenden Schichten» (Heinz D. Kittsteiner), im Untersuchungszeitraum also primär des Bürger-<br />

tums, zu dem sich auch die Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzte zählten. Die Werte <strong>und</strong> Prinzipien der bürgerlichen<br />

Gesellschafts- <strong>und</strong> Geschlechterordnung gaben denn auch den hegemonialen soziokulturellen Hinter-<br />

gr<strong>und</strong> aller hier untersuchten psychiatrischen Gutachten ab. 995<br />

Es ist im Laufe dieser Untersuchung wiederholt auf die Bedeutung eines genuin bürgerlichen Verhaltens-<br />

kodex als Wahrnehmungsfilter für die psychiatrische Ausdeutung kriminellen Verhaltens hingewiesen<br />

worden. Wenn der Aspekt der soziokulturellen Konditionierung der forensisch-psychiatrischen Praxis in<br />

diesem Abschnitt nochmals vertieft wird, so geschieht dies im Hinblick auf die Frage nach der<br />

Geschlechtsspezifität des Deutungsmusters «Psychopathie». Das Konzept der «Psychopathie» unterschied,<br />

was die Ätiologie <strong>und</strong> Symptomatik anbelangte, im Gegensatz zu älteren Krankheitskonzepten wie der<br />

«Hysterie» kaum zwischen den Geschlechtern. Die Psychiater attestierten Männern wie Frauen «erbliche<br />

Belastungen», «moralische Schwächen» oder «abnorme Gefühlsreaktionen». Auch das Modell der «ver-<br />

994 So bemerkte Georg Glaser 1911 in Bezug auf die «moralischen Idioten»: «Sie gelten im Publikum nicht als krank, sondern als<br />

bös. [...] Auch der Richter sträubt sich meist lange, bevor er diesen Verbrechertyp als krankhaft anerkennt [...].»; Glaser, 1911, 9.<br />

995 Zur bürgerlichen Gesellschafts- <strong>und</strong> Geschlechterordnung in der Schweiz des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts: Sarasin, 1997; Tanner, 1995.<br />

Zur bürgerlichen Gesellschaft als «moralische Ordnung»: Hettling/Hoffmann, 2000; Hettling/Hoffmann, 1997; Döcker, 1994.<br />

Zum Begriff der «normsetzenden Schichten»: Kittsteiner, 1991, 17.<br />

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