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Psychiatrie und Strafjustiz

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genen sittlichen Bewusstsein heraus betrachtet, wie wenn er so normal wäre wie sie selbst [...]. Die Beo-<br />

bachtung der Verbrecher zeigt aber, dass sie in der Regel abnorme Persönlichkeiten sind, geistig <strong>und</strong> körper-<br />

lich [...].» 244 Ferri <strong>und</strong> Lombroso waren sich einig, dass damit die Frage der strafrechtlichen Verantwort-<br />

lichkeit obsolet wurde. Mit der Forderung nach der Abschaffung des Kriteriums der Zurechnungsfähigkeit<br />

stellten die Kriminalanthropologen zugleich die herkömmliche Arbeitsteilung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Psychiatrie</strong> in Frage.<br />

Lombroso war Mitte der 1870er Jahren aufgr<strong>und</strong> von Körper- <strong>und</strong> Schädelmessungen zum Schluss ge-<br />

kommen, dass es sich beim «Verbrecher» um eine anthropologische Varietät handle, die ein früheres, «ata-<br />

vistisches», Entwicklungsstadium der menschlichen Phylogenese repräsentierte. Solche Individuen unter-<br />

schieden sich durch körperliche Stigmata wie missgebildete Ohrläppchen, geringeres Gehirnvolumen,<br />

Schädeldeformationen, physiognomische Asymmetrien oder geringeres Schmerzempfinden vom Durch-<br />

schnittsmenschen. Fünf Jahre nach Erscheinen seines Uomo delinquente (1876) fasste Lombroso seine These<br />

dahingehend zusammen, «dass dem Verbrecher typische Rasseneigentümlichkeiten zukommen, die ihn<br />

dem Mongolen annähern <strong>und</strong> sich morphologisch in Schädel- <strong>und</strong> Gesichtsbau, Haarwuchs <strong>und</strong> funktionell<br />

in den Tätowierungen, der Sprache (Kauderwelsch) <strong>und</strong> einer Reihe gemeinsamer Innervations-, Ge-<br />

müts-, Charakter- <strong>und</strong> Verstandeszüge aussprechen». 245 Mit seiner Atavismustheorie trieb Lombroso frü-<br />

here Ansätze zu einer Naturalisierung abweichenden Verhaltens insofern auf die Spitze, als er behauptete,<br />

dass das «Verbrechen eine Naturerscheinung, ein notwendiges [...] Phänomen wie Geburt, Tod, Emp-<br />

fängnis» darstelle, <strong>und</strong> damit beanspruchte, kriminelles Verhalten generell aufgr<strong>und</strong> biologischer Anlagen<br />

erklären zu können. 246 In den weiteren Auflagen des Uomo delinquente integrierte Lombroso zudem psychi-<br />

atrische Krankheitskonzepte wie die moral insanity oder die Epilepsie in sein Konzept. Dies hatte zur Folge,<br />

dass der zunächst als anthropologische Varietät definierte «Verbrecher» zunehmend psychopathologische<br />

Züge erhielt. 247 Die Tendenz, abweichendes Verhalten zu pathologisieren, lag ebenfalls dem Versuch<br />

zugr<strong>und</strong>e, in der weiblichen Prostituieren ein Äquivalent zum männlichen Verbrecher zu sehen. Durch die<br />

Parallelisierung von Verbrechen <strong>und</strong> Prostitution erfuhr die Kriminalanthropologie nicht nur ein explizites<br />

gendering, sondern weitete ihren Deutungsanspruch definitiv auf weitere Devianzformen aus. 248<br />

Mit der Integration psychiatrischer Krankheitskonzepte in seine Theorie des «Verbrechers» reagierte<br />

Lombroso auf erste Einwände gegen seinen Verbrechertypus. Ebenfalls unter dem Eindruck seiner (italie-<br />

nischen) Kritiker revidierte er in den 1880er Jahren den Verallgemeinerungsanspruch seiner Theorie <strong>und</strong><br />

weitete die Ätiologie des Verbrechens auf soziale Faktoren aus. Als Reaktion auf die Kritik Ferris räumte<br />

Lombroso schliesslich ein, dass lediglich zwei Fünftel der Straffälligen als «geborene Verbrecher» bezeich-<br />

net werden konnten, bei den übrigen würden dagegen die entsprechenden körperlichen Merkmale fehlen;<br />

bei solchen DelinquentInnen handle es sich folglich um «Gelegenheitsverbrecher». 249 Die Revision von<br />

Lombrosos Verallgemeinerungsanspruchs führte die Kriminalanthropologen dazu, differenziertere Verbrechertypologien<br />

aufzustellen. So unterschied Lombroso nebst «geborenen Verbrechern» <strong>und</strong> «Gelegen-<br />

heitsverbrechern» «Verbrecher aus Leidenschaft» sowie so genannte «Kriminaloide», die lediglich teilweise<br />

die Züge des «geborenen Verbrechers» tragen würden. 250 Mit dieser typologischen Ausdifferenzierung ging<br />

die explizite Anerkennung von klimatischen, geographischen, demographischen, kulturellen <strong>und</strong> sozialen<br />

244 Ferri, 1896, 11 (nachträgliche Hervorhebung durch den Verfasser).<br />

245 Lombroso, 1881, 111.<br />

246 Vgl. Lombroso, 1881, 113; Lombroso, 1902, 338<br />

247 Gadebusch Bondio, 1995, 39f.; Lombroso, 1893/94 I, 97-135, 450-477, Lombroso, 1902, 334.<br />

248 Regener, 1999, 264-278; Gibson, 1991.<br />

249 Lombroso, 1883, 457; Lombroso, 1893/94 I, XVII; Lombroso, 1902, 337; Hering, 1966, 51.<br />

250 Lombroso, 1902, 335-338.<br />

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