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Psychiatrie und Strafjustiz

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ten die Psychiater Zustände wie «Psychopathie» oder «psychische Entartung» von den (psychotischen)<br />

Krankheitsprozessen ab, wobei allerdings eine «psychopathische Disposition» sehr wohl als Vorstufe zu<br />

einer eigentlichen Geisteskrankheit gelten konnte. Andererseits konzipierten sie ein fliessendes «Über-<br />

gangsgebiet» zwischen gänzlicher «Normalität» <strong>und</strong> geringfügigeren psychischen Auffälligkeiten, die als<br />

«Abnormitäten» bezeichnet wurden. 968 Für die Ausdeutung von Kriminalfällen wie demjenigen von Fritz<br />

R. hatte die Konzeptualisierung eines normalistischen Übergangsbereichs zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit einschneidende Folgen. Die Annahme einer «Psychopathie» durch die Psychiater befriedigte<br />

zum einen den Bedarf an Sinngebung von Behörden, Nachbarschaft <strong>und</strong> Ärzte, die Fritz R. abwechselnd<br />

in die Irrenanstalt oder die Zwangsarbeitsanstalt schickten. Das Beispiel von Fritz R. zeigt beispielhaft, wie<br />

das Konzipieren von «Grenzzuständen» auf die Lösung von Definitionsproblemen bei der administrativ-<br />

juristischen Bewältigung abweichenden Verhaltens zugeschnitten war. Mittels des Psychopathiekonzepts<br />

liessen sich die Tätlichkeiten <strong>und</strong> Unterlassungen von Fritz R. gegenüber seiner Frau, seinen Kindern <strong>und</strong><br />

Nachbarn, seine Untätigkeit <strong>und</strong> Wutanfälle wissenschaftlich verbürgt <strong>und</strong> in sich stringent interpretieren.<br />

Zum andern erhielt der «bösartige Charakter» von Fritz R. durch die Diagnose «Psychopathie» definitiv<br />

ein medizinisches Gesicht. Moralisierende Deutungsmuster, wie sie von Nachbarn <strong>und</strong> den Gemeindebe-<br />

hörden ins Spiel gebracht wurden, erfuhren dadurch eine deutliche Akzentuierung. Allerdings unterschie-<br />

den sich Laien- <strong>und</strong> Expertenperspektive in diesem Fall weniger durch ihre Sensibilität gegenüber dem<br />

normabweichenden Verhalten von Fritz R., als durch die unterschiedlichen Sinnzusammenhänge, in wel-<br />

che sie dessen Verfehlungen stellten.<br />

Die Ursachen: «Erbliche Belastung» <strong>und</strong> «ungünstige Erziehungseinflüsse»<br />

Aus der Sicht der <strong>Psychiatrie</strong> handelte es sich bei «Psychopathen» um «krankhaft angelegte Persönlichkei-<br />

ten», die sich durch eine «dauernd krankhafte Verarbeitung der Lebensreize» auszeichneten. 969 Die Matrix<br />

des Psychopathiekonzepts konstruierte «Psychopathen» als Individuen, deren «Persönlichkeit» andauernd<br />

<strong>und</strong> irreversibel «minderwertig» war. Für das Deutungsmuster «der psychopathischen Persönlichkeit» war<br />

weniger die Rekonstruktion von Krankheitsverläufen oder das Aufspüren von Persönlichkeitsveränderun-<br />

gen <strong>und</strong> Intelligenzminderungen als die Feststellung «erblicher Belastungen» von entscheidender Bedeu-<br />

tung. Obwohl die Mechanismen der Vererbung <strong>und</strong> der Ausprägung einzelner Erbanlagen um die Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ertwende weitgehend unbekannt waren, ging der psychiatrische mainstream dennoch davon aus, dass<br />

Geistesstörungen <strong>und</strong> psychische Abnormitäten zur Hauptsache auf die Übertragung «minderwertiger<br />

Anlagen» zurückzuführen waren. So hiess es in Bleulers Lehrbuch von 1916: «Dennoch ist es unzweifel-<br />

haft, dass die Familienanlage eine der wichtigsten Bedingungen der Entstehung von Geisteskrankheiten<br />

sind.» 970 Einen entsprechend grossen Stellenwert massen die damaligen Psychiater eugenischen Massnah-<br />

men bei, durch die eine Vermehrung «minderwertigen Erbguts» verhütet werden sollte. 971<br />

Das psychiatrische Erblichkeitsparadigma spielte aber auch in der gerichtspsychiatrischen Praxis eine zent-<br />

rale Rolle, wenn es um die Begründung einer «psychopathischen Anlage» ging. So wiesen die Sachverstän-<br />

968 Dieses im Gutachten von Fritz R. implizierte Normalitätsdispositiv wurde in seinen wesentlichen Zügen auch von Hans Binder<br />

vertreten, der sich in den 1940er Jahren als einer der ersten Schweizer Psychiater um eine Explikation des Normalitätsbegriffs<br />

bemühte <strong>und</strong> dabei bezeichnenderweise auf physiologische Modelle zurückgriff; vgl. Binder, 1979a, 11-29. Zu Binder: Kp. 11.3.<br />

969 Kraepelin, 1896, 756.<br />

970 Bleuler, 1916, 139. Um die Kontinuität des psychiatrischen Erblichkeitsparadigmas zu illustrieren, sei hier ein Zitat aus der<br />

zweiten Auflage von Kraepelins Lehrbuch aus dem Jahre 1887 angeführt: «[...] so steht dennoch die allgemeine Tatsache von der<br />

hohen Bedeutung der Heredität in der Ätiologie der Psychosen über allen Zweifel fest, so wenig wir uns auch von den tieferen<br />

Zusammenhängen der Vorgänge hier eine irgendwie genügende Vorstellung machen können.»; Kraepelin, 1887, 54f. Zur Rolle<br />

der Vererbung in der deutschen <strong>und</strong> französischen <strong>Psychiatrie</strong> im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts: Roelcke, 1999, 80-95;<br />

Jeanmonod, 1996; Weingart/Kroll/Bayertz, 1992, 47-50; Dowbiggin, 1991.<br />

971 Vgl. Fussnoten 98 <strong>und</strong> 100.<br />

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