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Psychiatrie und Strafjustiz

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1. Teil: Das bürgerliche Strafrecht <strong>und</strong> die Medikalisierung krimi-<br />

nellen Verhaltens<br />

Definitionen <strong>und</strong> Bewältigungsstrategien im Umgang mit kriminellem Verhalten unterliegen historischen<br />

Wandlungs- <strong>und</strong> Lernprozessen. Dies gilt insbesondere für jene Deutungs- <strong>und</strong> Bewältigungsmuster, die<br />

in dieser Untersuchung unter dem Begriff der Medikalisierung zusammengefasst werden. Versuche, kriminelles<br />

Verhalten unter medizinischen Vorzeichen zu deuten <strong>und</strong> auf bestimmte Krankheiten zurückzufüh-<br />

ren, lassen sich bereits in der Antike ausmachen. Im Zuge der Rezeption der antiken Medizin griffen Ärzte<br />

der Frühen Neuzeit diese Deutungstraditionen erneut auf. Eine akzentuierte Bedeutung bekamen Medika-<br />

lisierungstendenzen indes im Zusammenhang mit der Formulierung eines neuen Strafparadigmas durch<br />

die Aufklärungsbewegung. Die Verankerung des Rechtsinstituts der Zurechnungsfähigkeit im bürgerlichen<br />

Strafrecht generierte ein neues Potenzial für eine Medikalisierung kriminellen Verhaltens <strong>und</strong> legte<br />

zugleich die Gr<strong>und</strong>lage für die Ausdifferenzierung eines forensisch-psychiatrischen Praxisfelds. Die Leit-<br />

differenz von «Verbrechen» <strong>und</strong> «Krankheit» fand dadurch definitiv Eingang in das diskursive Repertoire<br />

der bürgerlichen Gesellschaft im Umgang mit kriminellem Verhalten.<br />

Es wird Aufgabe der folgenden drei Kapitel sein, den wachsenden Stellenwert zu rekonstruieren, welcher<br />

der Option für eine Medikalisierung kriminellen Verhaltens in den massgebenden strafrechtlichen Lern-<br />

prozessen des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zukam. Sie skizzieren damit zugleich den weiteren Kontext für die im zwei-<br />

ten Teil dieser Untersuchung unternommene Rekonstruktion der forensisch-psychiatrischen Praxis im<br />

Kanton Bern. Im Vordergr<strong>und</strong> der folgenden Ausführungen stehen zwei Schlüsselperioden. Zwischen<br />

1790 <strong>und</strong> 1830 gewann das bürgerliche Strafparadigma erstmals konkrete Konturen. Dabei wurden auch<br />

die Modalitäten festgelegt, unter denen Kriminalpolitiker <strong>und</strong> Juristen bereit waren, Medikalisierungs-<br />

bestrebungen, wie sie seitens der Ärzteschaft vorgebracht wurden, Rechnung zu tragen. Aus diesen kon-<br />

fliktreichen Aushandlungsprozessen resultierten schliesslich um die Jahrh<strong>und</strong>ertmitte jene Bedingungen,<br />

unter denen eine strukturelle Koppelung zwischen Strafrecht <strong>und</strong> Medizin künftig erfolgen sollte. Diese<br />

Koppelungsbedingungen gerieten indes im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts unter Kritik. Kriminalanthropologen<br />

<strong>und</strong> Strafrechtsreformer formulierten nun eine regulative Kriminalpolitik, in der medizinische<br />

Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte an die Stelle des geltenden Schuldstrafrechts treten sollten. Sie<br />

sahen in einer weitgehenden Medikalisierung kriminellen Verhaltens tragfähige Optionen in einem Lern-<br />

prozess, von dem sie sich eine Effizienzsteigerung der <strong>Strafjustiz</strong> erhofften. Die von einer internationalen<br />

Strafrechtsreformbewegung in Gang gebrachten Lernprozesse führten namentlich in der Schweiz zu einer<br />

Reform des materiellen Strafrechts, bei der auch die Bedingungen für die interdisziplinäre Zusammenar-<br />

beit zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> zur Disposition standen. Die Schweizer Psychiater beteiligten<br />

sich denn auch besonders intensiv an der Strafrechtsreform, welche ihnen erlaubte, sich auf B<strong>und</strong>esebene<br />

zu einem kollektiven Akteur zu formieren <strong>und</strong> ihre kriminalpolitischen Interessen zu artikulieren. Unter-<br />

stützung fand das kriminalpolitische Engagement der Schweizer Psychiater bei führenden Strafrechtsre-<br />

formern. Zumindest im Fall der Schweiz führten die strafrechtlichen Lernprozesse der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

zu einer merklichen Annäherung der beiden Disziplinen, wodurch sich neue Perspektiven für eine arbeits-<br />

teilige Kriminalitätsbewältigung in der Justizpraxis ergaben.<br />

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