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Psychiatrie und Strafjustiz

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der scientific community erreichten. Die psychiatrische Publikationstätigkeit verdeutlicht auf diese Weise<br />

zugleich die Interessen, welche die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> der Strafrechtsreform entgegenbrachten. Da die<br />

kriminalpolitischen Forderungen <strong>und</strong> Interventionen der Schweizer Psychiater in Kapitel 4.3 ausführlich<br />

thematisiert werden, beschränkten sich die folgenden Angaben auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung<br />

dieser kriminalpolitischen Beiträge. Im Vordergr<strong>und</strong> der Beiträge der 1890er Jahre stand zunächst die<br />

Frage, wie ein künftiges schweizerisches Strafgesetzbuch das Kriterium der strafrechtlichen Verantwort-<br />

lichkeit definieren sollte. Hier zeigte sich die zentrale Bedeutung des Rechtsbegriffs der Zurechnungsfä-<br />

higkeit für die forensisch-psychiatrische Praxis. 464 Daneben beschäftigten sich mehrere Beiträge mit dem<br />

Projekt eines schweizerischen Irrengesetzes, von dem sich die Schweizer Psychiater eine Ausweitung ihrer<br />

Kontrollbefugnisse auf die ausserhalb der staatlichen Irrenanstalten untergebrachten Geisteskranken ver-<br />

sprachen <strong>und</strong> das teilweise als Ergänzung zu den im Vorentwurf von 1893 vorgesehenen sichernden<br />

Massnahmen gedacht war. 465 Mit diesen Beiträgen machten die Schweizer Psychiater erstmals offen ihre<br />

Ansprüche auf die Mitgestaltung der Strafrechtsreform geltend. Nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende verlagerten<br />

sich die Schwerpunkte der kriminalpolitischen Beiträge in zwei Richtungen. Zum einen diskutierten meh-<br />

rere Beiträge ausführlich die verschiedenen Vorentwürfe zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch. 466<br />

Zum andern weitete sich das kriminalpolitische Engagement der Schweizer Psychiater über die Begutach-<br />

tung <strong>und</strong> Verwahrung geistesgestörter DelinquentInnen auf den Bereich der eugenischen Prophylaxe aus.<br />

So forderte 1910 der Berner Psychiater Alfred Good (1866–1940), dass das künftige Strafgesetzbuch «aus-<br />

drücklich die Sterilisation Geisteskranker auf soziale Indikation hin erlaube». 467 Was sich Good von einer<br />

solchen Regelung erhoffte, war eine rechtliche Sanktion der Sterilisationspraxis, wie sie unter dem Einfluss<br />

von Forels Sozialreformertum an verschiedenen Schweizer Irrenanstalten seit den 1890er Jahren prakti-<br />

ziert wurde. Die nur kurze Zeit anhaltende Verlagerung der Sterilisationsfrage in den Bereich des Strafrechts<br />

hatte somit zur Folge, dass die Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht in den Jahren vor dem Ersten<br />

Weltkrieg in den Sog der schweizerischen Eugenikdebatte geriet. 468<br />

Juristisch-psychiatrische Grenzdispute im Zeichen neuer kriminalpolitischer Leitbilder<br />

Wegen ihrer interdisziplinären Ausrichtung wurde die Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht ebenfalls zu ei-<br />

nem Forum für Debatten zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern, bei denen die Bedingungen einer strukturel-<br />

len Koppelung zwischen den beiden Bezugssystemen zur Diskussion standen. Den Psychiatern boten sich<br />

dabei Möglichkeiten, Kompetenzansprüche im Bereich des Strafrechts zu formulieren <strong>und</strong> so an ihre Dis-<br />

kursposition in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts anzuschliessen. Die juristisch-psychiatrischen<br />

«Grenzdispute» der Jahrh<strong>und</strong>ertwende dokumentieren aber nicht nur die potenzielle Konflikthaftigkeit der<br />

Beziehungen zwischen den beiden Disziplinen, sondern zeigen auch, wie die dabei zum Tragen kommen-<br />

den Konfliktmuster Lernprozessen unterlagen, die dazu führten, dass die traditionellen Spannungen zwi-<br />

schen den Disziplinen zunehmend dem Leitbild einer interdisziplinären Kooperation Platz machten.<br />

Noch ganz nach dem Muster der «Grenzdispute» der ersten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte verlief eine sich über die<br />

1890er Jahre hinziehende Kontroverse zwischen Forel <strong>und</strong> dem konservativen Luzern Richter Meyer von<br />

Schauensee. Anlass dazu gab ein von Meyer von Schauensee veröffentlichter Beitrag, in dem er unter<br />

Berufung auf die deutsche Irrenrechtsreformbwegung das psychiatrische Vererbungsparadigma <strong>und</strong> den<br />

Kompetenzanspruch der Psychiater bestritt, über die Einweisung von geisteskranken DelinquentInnen in<br />

464 Wille, 1890; Speyr, 1894; Emmert, 1895.<br />

465 Forel, 1893; Irrengesetz, 1895; Speyr, 1897.<br />

466 Maier, 1909; Ladame, 1910.<br />

467 Good, 1910; Oberholzer, 1912.<br />

468 Vgl. Fussnote 98.<br />

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