13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Für die Schweiz präsentiert sich die Forschungssituation gr<strong>und</strong>sätzlich ähnlich wie im übrigen deutsch-<br />

sprachigen Raum. Zur Kriminalitätsgeschichte des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts liegen lediglich punktuelle<br />

Arbeiten vor. Übergreifende Forschungsdiskussionen haben sich dagegen kaum ergeben. 117 Michele Lu-<br />

minati hat jüngst sogar von einer regelrechten «Unterbelichtung der Dritten Gewalt» durch die schweizeri-<br />

sche Geschichtsforschung gesprochen <strong>und</strong> gleichzeitig eine Forschungsstrategie skizziert, die der im vo-<br />

rangehenden Unterkapitel dargelegten nahe kommt. 118 Einen wichtigen Beitrag für die von Luminati ge-<br />

forderte Justizgeschichte hat indes Regula Ludi vorgelegt. Anhand der europäischen <strong>und</strong> schweizerischen<br />

Entwicklung zeichnet sie die Genese der modernen Kriminalpolitik nach <strong>und</strong> zeigt, wie der gesellschaftliche<br />

Aufstieg des Bürgertums von der Formulierung eines neuen Strafparadigmas begleitet war, das in der<br />

Rechtsprechung des Ancien régime nur mehr eine Praxis der Willkür erblickte <strong>und</strong> eine neue Rationalität des<br />

Strafens propagierte, die den Prinzipien der Gleichheit, Legalität <strong>und</strong> Effizienz verpflichtet sein sollte.<br />

Zum Durchbruch gelangte das neue Strafparadigma mit den liberalen Strafrechtskodifikationen in der<br />

ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Die Systematisierung der Straftatbestände sowie eine Effizienzsteige-<br />

rung der Strafverfolgung hatten indes den paradoxen Effekt, dass sie letztlich zu einer Zunahme der re-<br />

gistrierten Kriminalität führten <strong>und</strong> somit den Anspruch der bürgerlichen Strafrechtsreformer, das<br />

Verbrechen zum Verschwinden zu bringen, in sein Gegenteil verkehrten. 119 Ludis Beitrag zur Kriminali-<br />

tätsgeschichte ist für die vorliegende Arbeit aus zwei Gründen bedeutsam. Zum einen verdeutlicht er den<br />

zyklischen Charakter strafrechtlicher Lern- <strong>und</strong> Reformprozesse, deren Dynamik sich aus dem Wechsel-<br />

spiel zwischen kriminalpolitischen Programmen <strong>und</strong> den Erfahrungen der Justizpraxis ergibt. Wie bereits<br />

dargelegt worden ist, lassen sich die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts festzustellenden Tenden-<br />

zen zu einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens als Ergebnisse von Lernprozessen bezeichnen, die<br />

einer vergleichbaren zyklischen Logik unterlagen. Zum andern zeigt Ludi, dass das Scheitern des bürgerlichen<br />

Strafparadigmas an der sozialen Realität letztlich zur Ausdifferenzierung neuer institutioneller Zugrif-<br />

fe auf abweichendes Verhalten führte. So erlaubte die Schaffung einer Administrativjustiz auf dem Weg<br />

des Armenpolizeirechts dem bürgerlichen Staat, soziale Kontrollfunktionen auch unabhängig vom straf-<br />

rechtlichen Legalitätsprinzip auszuüben. Resultat dieser Rechtsentwicklung war die Entstehung eines gan-<br />

zen Arsenals funktional differenzierter Anstaltstypen wie Zwangsarbeits- oder Erziehungsanstalten. Eben-<br />

falls in dieses Anstaltsdispositiv integriert wurden die seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstehenden<br />

Irrenanstalten. 120 Wie an verschiedenen Stellen dieser Untersuchung gezeigt werden soll, war die Heraus-<br />

bildung einer vom Strafrecht weitgehend losgelösten Administrativjustiz eine massgebliche Voraussetzung<br />

für die Ausdifferenzierung neuer institutioneller Zugriffe auf StraftäterInnen.<br />

Übersicht über die ausgewerteten Quellen<br />

Die Unterscheidung zweier Untersuchungsebenen widerspiegelt sich auch in der für die vorliegende Un-<br />

tersuchung getroffene Quellenauswahl, die hier kurz skizziert werden soll. Eine vollständige Quellenüber-<br />

sicht befindet sich am Schluss der Arbeit.<br />

Was die Ebene der Rechts- <strong>und</strong> Kriminalpolitik anbelangt, stand einerseits die Sichtung <strong>und</strong> Analyse des ein-<br />

schlägigen juristisch-psychiatrischen Schrifttums im Vordergr<strong>und</strong>. Systematisch durchgesehen wurden<br />

verschiedene Zeitschriften, wobei die Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (1888–1950) <strong>und</strong> das Schweizerische<br />

117 Vgl. zur Frühen Neuzeit:: Porret, 1995; Schmidt, 1995; Burghartz, 1990. Zum 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert: Grisard, 1999; Vouilloz<br />

Burnier, 1997; Sokoloff, 1993; Leuenberger, 1989. Einen – nicht unproblematischen – volksk<strong>und</strong>lichen Ansatz hat Hugger, 1976<br />

verfolgt.<br />

118 Luminati, 2001.<br />

119 Ludi, 1999; Ludi, 1998.<br />

120 Ludi, 1999, 410-419. Zur Entstehung der Administrativjustiz in der Schweiz: Lippuner, 1999; Meier/Wolfensberger, 1998, 431-<br />

434.<br />

33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!