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Psychiatrie und Strafjustiz

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DelinquentInnen auch an die Irrenanstalten der Nachbarkantone zur Begutachtung. 421 Die Ausdifferenzie-<br />

rung einer Anstaltspsychiatrie bildete eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich in der Schweiz eine<br />

regelmässige forensisch-psychiatrische Praxis überhaupt herausbilden konnte. Erst das Vorhandensein<br />

psychiatrischer Institutionen gab den Justizbehörden die Möglichkeit, regelmässig fachärztliche Begutach-<br />

tungen über längere Zeiträume anzuordnen. Gleichzeitig erlaubten die Irrenanstalten, psychisch gestörte<br />

DelinquentInnen dauerhaft zu verwahren oder zu behandeln, wodurch sich der reguläre Strafvollzug von<br />

Problemfällen entlasten liess. Beide Umstände trugen dazu bei, dass die kantonalen Justizbehörden seit<br />

dem letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts vermehrt auf die Kompetenzen der Anstaltspsychiater zurückgriffen.<br />

Dabei erfuhr die forensisch-psychiatrische Praxis eine beträchtliche, wenn auch regional unter-<br />

schiedlich ausgeprägte Ausweitung, die dazu führte, dass die Rolle des forensisch-psychiatrischen Exper-<br />

ten innerhalb der beruflichen Tätigkeit der Schweizer Psychiater einen wachsenden Stellenwert erhielt.<br />

Dass sich die berufliche Relevanz von ärztlicher Kernrolle <strong>und</strong> Expertenrolle sogar umkehren konnte,<br />

zeigt der Rückblick des Direktors der Berner Irrenanstalt Waldau, Wilhelm von Speyr, auf die Zeit der<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende: «Es hat sogar eine Zeit gegeben, wo ich in meiner Stellung als Sachverständiger mehr<br />

zu leisten glaubte, <strong>und</strong> mehr Befriedigung fand als in der vermeintlich <strong>und</strong>ankbaren Arbeit an den Kran-<br />

ken selbst.» 422<br />

Impulse zur Formation einer psychiatrischen scientific community waren zunächst von der 1864 erfolgten<br />

Gründung des Vereins schweizerischer Irrenärzte ausgegangen, dem praktisch alle Anstaltspsychiater der<br />

Schweiz angehörten <strong>und</strong> der sich noch vor der Entstehung überregionaler Ärztegesellschaften zu einer<br />

veritablen Standesorganisation entwickelte. 423 Von zentraler Bedeutung für die psychiatrische Disziplin<br />

war ebenfalls die 1888 erfolgte Anerkennung als Prüfungsfach des medizinischen Staatsexamens, welche<br />

das Resultat einer Initiative des Direktors der Zürcher Irrenanstalt Burghölzli, Auguste Forel, war. Auch in<br />

andern Bereichen gab Forels fachliches <strong>und</strong> standespolitisches Engagement der psychiatrischen Disziplin-<br />

bildung in den 1880er <strong>und</strong> 1890er Jahren entscheidende Impulse. Zum einen funktionierte seine Klinik bis<br />

zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende gleichsam als Kaderschmiede der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>. Eine grosse Zahl jener<br />

Anstaltsdirektoren, die ihren Posten zwischen 1880 <strong>und</strong> 1900 antraten <strong>und</strong> die Entwicklung der Psychiat-<br />

rie in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein prägten, rekrutierten sich aus Forels Schüler, so etwa<br />

Forels eigener Nachfolger, Eugen Bleuler, der Direktor der Berner Irrenanstalt Waldau, Wilhelm von<br />

Speyr, oder der Direktor der Waadtländer Irrenanstalt Céry, Albert Mahaim (1867–1925). 424 Zum andern<br />

öffnete Forel der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> Perspektiven, die über den Kernbereich der traditionellen An-<br />

staltspsychiatrie hinausgingen. Als Direktor des Burghölzli vertrat Forel, dessen eigene psychiatrische<br />

Ausbildung noch ganz im Zeichen der Hirnanatomie gestanden hatte, eine klinisch orientierte <strong>Psychiatrie</strong>,<br />

die ihre wissenschaftliche Aufgabe in der genauen Beobachtung von Krankheitsverläufen sah. Daneben<br />

setzte er sich für die Einführung neuer Therapiemethoden wie die Hypnose ein. Trotz dieser Innovatio-<br />

nen sah sich Forel der rasch wachsenden Anstaltspopulation des Burghölzli weitgehend ohnmächtig ge-<br />

genüber. Die therapeutische Unzulänglichkeit der damaligen Anstaltspsychiatrie sowie die Annahme, das<br />

Geistesstörungen in erster Linie durch Vererbung bedingt waren, führten ihn Mitte der 1880er Jahre dazu,<br />

seine Tätigkeit als Psychiater über die Anstaltsmauern hinaus auf das Gebiet der Sozialreform auszuwei-<br />

421 Gschwend, 1996, 474-476. Vgl. Höck, 1994; Ernst, 1983. Als wichtige Quelle über den Zustand der Versorgung von psychisch<br />

gestörten Personen um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts: Hungerbühler, 1846. Siehe auch die bezeichnende Schilderung der Begutachtungspraxis<br />

im (katholischen) Kanton Luzern im Zusammenhang mit zwei Todesurteilen bei Meyer von Schauensee, 1914/18,<br />

498.<br />

422 Speyr, 1909, 11; Kp. 6.<br />

423 Vgl. Gasser, 2000; Braun, 1985, 346-350; Ladame, 1920/1922.<br />

424 Vgl. Walser, 1972<br />

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