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Psychiatrie und Strafjustiz

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tiv zu einem Diskurs über die Begründung staatlicher Macht. 126 Eine öffentlichkeitswirksame Verstärkung<br />

erfuhr diese Strafkritik vor allem in so genannten Justizskandalen, das heisst in Justizirrtümern <strong>und</strong> Urtei-<br />

len, die von der aufklärerischen Publizistik zu politischen Skandalen erhoben wurden. 127 Unzweckmässig-<br />

keit, Grausamkeit, Willkür <strong>und</strong> Missachtung der Persönlichkeitsrechte waren dabei die Hauptvorwürfe der<br />

Aufklärer an der herkömmlichen Strafpraxis. Gleichzeitig machten sie sich daran, eine Kriminalpolitik zu<br />

formulieren, die die staatliche Strafmacht kanalisieren <strong>und</strong> mit einer neuen Legitimationsbasis ausstatten<br />

sollte. Was ihnen vorschwebte, war ein zweckmässiger Umgang mit kriminellem Verhalten, dank dem sich<br />

die Fortschrittsutopie einer zivilisierten <strong>und</strong> kriminalitätsfreien Gesellschaft verwirklichen liess.<br />

Die Aufklärer verlangten, dass das neue Strafparadigma vom Prinzip der Rechtmässigkeit auszugehen<br />

habe. Dieses Postulat sollte einerseits durch das Verankern des staatlichen Strafanspruchs im (fiktiven)<br />

bürgerlichen Gesellschaftsvertrag, andererseits durch die Kodifikation des materiellen Strafrechts erfüllt<br />

werden. Das geschriebene Recht hatte die Strafmacht des Staates auf jene Handlungen zu beschränken,<br />

die der Gesellschaft wirklich Schaden zufügten. So verhiess die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen<br />

vom 26. August 1789: «Nul ne peut être puni, qu’en vertu d'une loi établie et promulguée antérieurement<br />

au délit et légalement appliquée.» 128 Im gleichen Sinn definierte der deutsche Jurist Anselm von Feuerbach<br />

(1775–1833) das strafrechtliche Legalitätsprinzip, wonach jeder Strafe ein gesetzlich definierter Straftatbe-<br />

stand vorauszugehen hatte. Feuerbachs Kurzformel Nulla poena sine lege gehört seither zur viel zitierten<br />

Gr<strong>und</strong>lage des bürgerlichen Strafrechts. 129 In den Augen der Aufklärer ging es nicht nur darum, die Zahl<br />

der strafbaren Handlungen, sondern auch das Strafmass zweckmässig zu beschränkten. Dieses sollte ge-<br />

mäss Montesquieus Prinzip der Proportionalität von Verbrechen <strong>und</strong> Strafe der «Sozialschädlichkeit» einer<br />

Handlung entsprechen. Dem Richter oblag damit lediglich die Aufgabe, eine Handlung unter das Strafge-<br />

setz zu subsumieren <strong>und</strong> die dafür vorgesehene Strafe auszusprechen. Bereits die Aufklärer waren sich<br />

bewusst, dass dieser strafrechtliche Legalismus leicht in einen rein formalen Verbrechensbegriff münden<br />

konnte. Gerechtigkeit drohte dadurch, auf den Aspekt der Gleichbehandlung reduziert zu werden. Das<br />

Legalitätsprinzip schuf zwar Gr<strong>und</strong>lagen für eine gleichmässige Strafpraxis, gleichzeitig gab es dem Ge-<br />

setzgeber aber beträchtliche kriminalpolitische Handlungsspielräume, wenn es um die Definition der «So-<br />

zialschädlichkeit» einzelner Tatbestände ging. Ebenfalls im Zeichen der Humanisierung <strong>und</strong> Verrechtli-<br />

chung standen die aufklärerischen Forderungen im Bereich des Strafprozessrechts wie die Abschaffung<br />

der Folter sowie die Anerkennung des Prinzips der Unschuldsvermutung <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>satzes der Öf-<br />

fentlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens. 130<br />

Die Aufklärer waren sich über die Notwendigkeit eines erneuerten Strafrechts einig. Keine Einigkeit<br />

herrschte dagegen in der Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der Todesstrafe 131, sowie über die der<br />

Strafe zugeschriebenen Zwecke. Bezeichnenderweise lässt sich bereits vor 1800 eine Auffächerung der<br />

straftheoretischen Positionen feststellen. Theoretiker des frühneuzeitlichen Strafparadigmas wie Carpzov<br />

hatten in der Strafe primär ein Mittel der Vergeltung <strong>und</strong> der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung<br />

gesehen. Aufgeklärte Straftheoretiker wie Beccaria oder Feuerbach identifizierten den Zweck der Strafe<br />

dagegen primär mit deren Nutzen für die Zukunft. Das Strafrecht diente in ihren Augen weniger dazu,<br />

vergangene Verbrechen zu bestrafen, als künftige zu verhindern. Durch die Androhung einer klar definier-<br />

126 Ludi, 1999, 75-89.<br />

127 Den Prototyp eines solchen Justizskandals stellte das Aufgreifen der «Affäre Calas» durch Voltaire zu Beginn der 1760er Jahre<br />

dar; vgl. Ludi, 1999, 102-105.<br />

128 Artikel 8 der Déclaration de droits de l'homme et du citoyen vom 26. August 1789, zitiert: Kaenel, 1981, 24.<br />

129 Kaenel, 1981, 52.<br />

130 Ludi, 1999, 148-157.<br />

131 Vgl. Evans, 2001; Martschukat, 2000.<br />

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