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Psychiatrie und Strafjustiz

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ärzte zu bringen <strong>und</strong> diese gleichzeitig vor einer externen Kontrolle zu immunisieren. Der Vorschlag, die<br />

Kontrolle über das Irrenwesen zu zentralisieren <strong>und</strong> auf die in Privatpflege befindlichen Geisteskranken<br />

auszuweiten, stiess selbst innerhalb der Disziplin auf Widerstand. Namentlich Psychiater aus der Roman-<br />

die betrachteten die vorgeschlagene Zentralisierung mit Skepsis, aber auch andere Exponenten der Diszip-<br />

lin versprachen sich angesichts der fehlenden Verfassungsgr<strong>und</strong>lage für ein B<strong>und</strong>esgesetz von einer Wei-<br />

terverfolgung des Gesetzesentwurfs auf kantonaler Ebene mehr Erfolg. 1897 präsentierten die Schweizer<br />

Irrenärzte schliesslich einen Vorschlag für eine «Interkantonale Vereinbarung zum Schutz der Geistes-<br />

kranken», die noch im gleichen Jahr von Vertretern verschiedener Kantone diskutiert wurde. Trotz anfänglicher<br />

Zusagen der Kantone verblasste das Interesse an dem Projekt jedoch zunehmend, so dass die<br />

Bemühungen um ein gesamtschweizerisches Irrengesetz um 1900 versandeten. 598<br />

Dass sich einzelne Schweizer Psychiater von der Strafrechtseinheit Impulse für eine Vereinheitlichung des<br />

Irrenrechts versprachen, belegt das Protokoll der Versammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte vom<br />

Juni 1892. Demnach waren sich die versammelten Irrenärzte mehrheitlich einig, dass sowohl die Straf-<br />

rechtseinheit, als auch ein schweizerisches Irrengesetz in unmittelbare Nähe gerückt waren: «Wie das eidgenössische<br />

Strafgesetz wird <strong>und</strong> muss über kurz <strong>und</strong> lang das eidgenössische Irrengesetz kommen. Dann<br />

müssen die Psychiater gerüstet sein.» 599 Um für die in Gang gekommene Gesetzgebungsdynamik optimal<br />

«gerüstet» zu sein, wurde die schon erwähnte Vereinskommission mit der Ausarbeitung eines Irrengeset-<br />

zes beauftragt. Als sich ein Jahr später die Mehrheit der Kommission in Chur auf die Strafrechtsfrage be-<br />

schränken wollte, drang Forel mit dem Antrag durch, dem B<strong>und</strong>esrat in einer Resolution nebst der Be-<br />

grüssung der Strafrechtseinheit den Wunsch auszusprechen, «es sei eine eidgenössische gesetzliche Rege-<br />

lung der Aufsicht über das Irrenwesen anzustreben». 600 1893 legte Forel in eigener Regie einen Entwurf<br />

für ein Irrengesetz vor, der auch unter den Strafrechtsreformen Beachtung fand. Stooss betonte wieder-<br />

holt, dass das vorgeschlagene Irrengesetz die sichernden Massnahmen des Strafrechts ideal ergänzen wür-<br />

de. Im Gegensatz zu Forel, der seinen Entwurf am liebsten direkt dem B<strong>und</strong>esrat vorgelegt hätte, war sich<br />

Stooss allerdings bewusst, dass eine Vereinheitlichung des Irrenrechts noch in weiter Ferne stand: «Es ist<br />

nun allerdings nicht zu erwarten, dass ein schweizerisches Irrengesetz in den nächsten Jahren schon vom<br />

B<strong>und</strong> vorbereitet wird. Nichtsdestoweniger ist die Vorlage der schweizerischen Irrenärzten in keiner Wei-<br />

se verfrüht.» 601 Stooss verwies die Psychiater stattdessen auf den Weg der kantonalen Gesetzgebung, den<br />

diese mit der «Interkantonalen Vereinbarung» von 1897 auch zu beschreiten versuchten.<br />

Das vergleichsweise rasche Verpuffen der von der Strafrechtsvereinheitlichung erhofften Impulse für ein<br />

Irrengesetz auf B<strong>und</strong>esebene zeigt gleichsam eine strukturelle Schwäche der psychiatrischen Rechtspolitik.<br />

Diese war, um ihre Postulate erfolgreich durchsetzen zu können, offensichtlich auf die Unterstützung von<br />

aussen angewiesen, im Fall der Strafrechtsreform, wo die Irrenärzte nicht in den Expertenkommissionen<br />

vertreten waren, insbesondere auf diejenige der progressiven Strafrechtsreformer. Wie die Zurechnungsfähigkeits-<br />

<strong>und</strong> Massnahmendebatten beispielhaft zeigen, setzte dies im Gegenzug voraus, dass die Irren-<br />

ärzte selbst bereit waren, ihre Forderungen in justiziable Form zu bringen <strong>und</strong>/oder auf das politische<br />

agenda setting Rücksicht zu nehmen. Zumindest dieser letzte Punkt war im Fall des Irrengesetzes keines-<br />

wegs erfüllt. Denn weder die B<strong>und</strong>esbehörden noch die Strafrechtsreformer waren geneigt, zugunsten der<br />

Irrenärzte an der im Vorfeld der Rechtseinheitsdebatte von 1897/98 umkämpften Kompetenzverteilung<br />

598 Schwengeler, 1999, 45-90; Forel, 1893; Irrengesetz, 1895; Speyr, 1896; Speyr, 1897; Speyr, 1907a.<br />

599 «XX. Versammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Schaffhausen am 19. <strong>und</strong> 20. Juni 1892», in: CBl, 22, 1892, 613.<br />

600 BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Versammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Chur am 22. u. 23. Mai 1893.<br />

601 Irrengesetz, 1895, 349; VE 1893, 25.<br />

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