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Psychiatrie und Strafjustiz

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Ebene der Rechts- <strong>und</strong> Kriminalpolitik die Spielregeln für die strukturelle Koppelung von <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Psychiatrie</strong> ausgehandelt wurden, <strong>und</strong> pragmatische Lernprozesse, die auf der Ebene der Justizpraxis zu einer<br />

Intensivierung der juristisch-psychiatrischen Zusammenarbeit führten. 62 Wie andere Lernprozesse verlie-<br />

fen auch Medikalisierungsprozesse keineswegs gradlinig, sondern wurden von gegenläufigen Tendenzen<br />

durchbrochen. So hat Tilmann Moser 1971 kritisch auf die Tendenz der b<strong>und</strong>esdeutschen Gerichtspsychi-<br />

atrie hingewiesen, psychischen «Abnormitäten» keinen Krankheitswert zuzubilligen <strong>und</strong> die entsprechen-<br />

den StraftäterInnen dem Strafvollzug zu überlassen. 63 Die restriktive Exkulpationspraxis der deutschen<br />

Nachkriegspsychiater ist historisch indes keineswegs evident. Noch vor dem Ersten Weltkrieg engagierte<br />

sich der führende deutsche Psychiater, Emil Kraepelin (1865–1926) für eine konsequente Medikalisierung<br />

des Strafrechts. 64 Erst in der Zwischenkriegszeit verabschiedete sich der mainstream der deutschen Psychi-<br />

atrie von Kraepelins Medikalisierungsoptimismus. Die von Moser angeprangerte Tendenz zu einer Deme-<br />

dikalisierung kriminellen Verhaltens verweist somit auf Diskontinuitäten innerhalb der Entwicklung der<br />

forensischen <strong>Psychiatrie</strong>. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg modifizierten Demedikalisierungstenden-<br />

zen, das heisst das bewusste Zurückdrängen des medizinischen Bezugssystems zugunsten anderer Instru-<br />

mente der sozialen Kontrolle, auch in der schweizerischen Justizpraxis frühere Medikalisierungsstrategien.<br />

Im 3. Teil der vorliegenden Untersuchung wird aufzuzeigen sein, unter welchem Umständen solche De-<br />

medikalisierungstendenzen unter Schweizer Psychiatern zunehmend auf Akzeptanz stiessen. Die Erweite-<br />

rung des Medikalisierungskonzepts um die gegenläufige Tendenz der Demedikalisierung erlaubt schliess-<br />

lich, den erwähnten Positionswandel der Schweizer Psychiater zwischen 1893 <strong>und</strong> 1944 als Ausdruck einer<br />

spezifischen Entwicklungsdynamik zu interpretieren.<br />

Professionalisierung oder disziplinäre Ausdifferenzierung?<br />

In der sozialhistorischen Forschung werden Medikalisierungsansätze häufig in eine Linie mit dem Kon-<br />

zept der Professionalisierung gestellt. HistorikerInnen sehen in in ärztlichen Professionalisierungsbestre-<br />

bungen gemeinhin wichtige Erklärungsfaktoren für Medikalisierungstendenzen. 65 Vor allem in der angel-<br />

sächsischen Forschung ist verschiedentlich versucht worden, das Professionalisierungskonzept auf die<br />

Entwicklung der <strong>Psychiatrie</strong> zu übertragen. 66 Solche Ansätze sind in jüngster Zeit auch von der schweize-<br />

rischen Forschung aufgegriffen worden. Der <strong>Psychiatrie</strong> wird dabei zumindest implizit das zielgerichtete<br />

Verfolgen eines professional project (Margalie Sarfatti-Larson) unterstellt, das darauf angelegt war, ihren pro-<br />

fessionellen Gegenstandsbereich zu konsolidieren, zu monopolisieren <strong>und</strong> schliesslich über die Mauern<br />

der Irrenanstalten auszuweiten. Martin Klee hat im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Zür-<br />

cher <strong>Psychiatrie</strong> auf die Bedeutung solcher Professionalisierungskämpfe zwischen Psychiatern <strong>und</strong> An-<br />

62 Vgl. Siegenthaler, 1993, 13-21. Kritisch zu hinterfragen ist in diesem Zusammenhang die Annahme Siegenthalers, dass sich<br />

f<strong>und</strong>amentales Lernen in Krisenphasen nach den Prinzipien verständigungsorientierten Handelns vollziehe. Begründet wird dies<br />

durch die «vollkommene Unsicherheit» der AkteurInnen, die zweckrationales Handeln verunmögliche (Siegenthaler, 1993, 11,<br />

183f). Langfristige Lernprozesse «angeln» sich in dieser Perspektive von einer Phase verständigungsorientierten Handelns zur<br />

andern hoch, wobei sich zwischen die einzelnen Krisenphasen Strukturphasen einschieben. Siegenthalers Modell historischer<br />

Lernprozesse tendiert deshalb implizit zu den Aporien liberaler Fortschrittmodelle, die historische Entwicklungen im Lichte einer<br />

letztlich ahistorischen «Rationalität» betrachten. Ausgeblendet wird dabei, dass soziale Machtverhältnisse selbst in Krisen- <strong>und</strong><br />

Unsicherheitsphasen ihre Wirksamkeit nicht gänzlich einbüssen <strong>und</strong> die Restabilisierung neuer Deutungsmuster massgeblich<br />

prägen können. Das Modell historischer Lernprozesse, wie es in dieser Untersuchung Verwendung findet, löst sich stattdessen<br />

von jeglichem normativen Bezug in Form verständigungsorientierten Handelns <strong>und</strong> betrachtet Lern- <strong>und</strong> Ausdifferenzierungsprozesse<br />

als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, die in jedem Fall durch soziale Machtverhältnisse konditioniert werden.<br />

63 Moser, 1971.<br />

64 Vgl. Engstrom, 2001.<br />

65 Vgl. Huerkamp, 1985, 10-21; Göckenjan, 1985; kritisch bezüglich der Kombination beider Ansätze: Loetz, 1993, 136-141. Zur<br />

Professionalisierung der Ärzteschaft in der Schweiz: Bosson, 1998; Ehrenström, 1992; Brändli, 1990; Braun, 1985.<br />

66 Vgl. Goldstein, 1987; Dowbiggin, 1989; Scull, 1979. Ebenfalls kritisch bezüglich der Verwendung des Professionalisierungskonzepts:<br />

Oosterhuis, 2001, 22f.; Chmielewski, 1999.<br />

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