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Psychiatrie und Strafjustiz

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ten nachhaltig. Dieser Bef<strong>und</strong> weist darauf hin, dass Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis als<br />

Ergebnis pragmatischer Lernprozesse anzusehen sind, deren Verlauf ungleich komplexer ist, als dies eine<br />

Analyse der juristisch-psychiatrischen Leitdiskurse vermuten lässt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,<br />

die Rahmenbedingungen <strong>und</strong> institutionellen Mechanismen, die im Einzelfall eine Medikalisierung krimi-<br />

nellen Verhaltens bewirkten, auf der Mikroebene zu untersuchen.<br />

Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds im Kanton Bern bildete<br />

die Analyse des rechtlich-institutionellen Dispositivs, das die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden <strong>und</strong><br />

den psychiatrischen Sachverständigen strukturierte. Die Aufgabenteilung zwischen den beiden Bezugssys-<br />

temen im Kanton Bern entsprach der im deutschen Sprachraum seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts gängi-<br />

gen Kompetenzverteilung. Die Rolle medizinisch-psychiatrischer Sachverständiger wurde folglich auf rein<br />

konsultative Funktionen beschränkt. Eingang in die Berner Strafgesetzgebung fand ebenfalls die Willens-<br />

semantik des bürgerlichen Strafdiskurses, die aus dem Besitz der Willensfreiheit eine unabdingbare Vor-<br />

aussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit machte. Mit dem Institut einer verminderten Zu-<br />

rechnungsfähigkeit <strong>und</strong> der Möglichkeit, sichernde Massnahmen gegen «von Strafe befreite» Delinquen-<br />

tInnen zu verhängen, enthielt dieses Dispositiv jedoch bereits Elemente, die eine weitergehende Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens erlaubten. Seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bestand im Kanton Bern eben-<br />

falls eine leistungsfähige psychiatrische Infrastruktur, die laufend ausgebaut wurde <strong>und</strong> eine stationäre<br />

Begutachtung sowie die dauerhafte Verwahrung von DelinquentInnen ermöglichte. Die Psychiater, die im<br />

Untersuchungszeitraum als Gerichtsgutachter zum Einsatz kamen, bildeten, was Herkunft <strong>und</strong> Ausbil-<br />

dung anbelangt, eine vergleichsweise homogene Expertengruppe, die über gemeinsame Deutungsmuster<br />

verfügte, unter sich eng vernetzt war <strong>und</strong> sich kriminal- <strong>und</strong> standespolitisch engagierte.<br />

Diese rechtlichen <strong>und</strong> institutionellen Rahmenbedingungen bildeten den Hintergr<strong>und</strong> für eine beträchtli-<br />

che Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis, die dazu führte dass sich die Zahl der psychiat-<br />

risch begutachteten StraftäterInnen zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920 versechsfachte. Wenngleich Medikalisie-<br />

rungsbestrebungen nach wie vor auf eine Minderheit von Straffällen beschränkt blieben, nahm die Präsenz<br />

psychiatrischer Sachverständiger im Untersuchungszeitraum doch ein Ausmass an, das es erlaubt, von<br />

einer neuen Qualität der juristisch-psychiatrischen Zusammenarbeit zu sprechen. Dies bedeutete zugleich,<br />

dass Sachverständigenaufgaben innerhalb des Tätigkeitsbereichs der Berner Psychiater einen wachsenden<br />

Stellenwert bekamen <strong>und</strong> diesen ein Feld zur beruflichen Profilierung boten.<br />

Eine historische Interpretation der Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis muss<br />

allerdings mehrere Dimensionen berücksichtigen. So lässt sich auf der einen Seite aufgr<strong>und</strong> statistischer<br />

Daten feststellen, dass die Intensivierung der psychiatrischen Begutachtungspraxis von einer Zunahme<br />

jener psychiatrischen Deutungsmuster begleitet war, die im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu einer<br />

beträchtlichen Erweiterung des psychiatrischen Blickfelds geführt hatten. In dieser Perspektive führte die<br />

Aneignung neuer Deutungsmuster, die sich nicht mehr allein auf ausgesprochene Fälle von Geisteskrank-<br />

heit beschränkten, sondern nach <strong>und</strong> nach ein ganzes Feld vergleichsweise geringfügiger «psychischen<br />

Abnormitäten» umfassten, zu einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens. Diese Veränderung<br />

auf der Ebene der Deutungsmuster schlug sich in einer anteilsmässigen Zunahme von «Grenzfällen» nie-<br />

der, deren strafrechtliche Verantwortlichkeit nur mehr mit Schwierigkeiten zu bestimmten war. Dement-<br />

sprechend nahm während des Untersuchungszeitraums der Anteil jener DelinquentInnen zu, die als ver-<br />

mindert zurechnungsfähig bef<strong>und</strong>en wurden. Bestätigt wird dieser Bef<strong>und</strong> durch die Analyse von Einzelfällen,<br />

in denen das Potenzial von Deutungsmustern wie der «psychopathischen Persönlichkeit» im Hin-<br />

blick auf eine Pathologisierung sozialer Devianz zum Ausdruck kommt. So erlaubte das psychopathologi-<br />

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