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Psychiatrie und Strafjustiz

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<strong>und</strong> ihr Verhältnis zur <strong>Strafjustiz</strong>. Indem die Pflicht zur Begutachtung zweifelhafter Geisteszustände Ein-<br />

gang ins künftige Einheitsstrafrecht fand, brachte die Strafrechtsreform den Schweizer Psychiatern eine<br />

definitive <strong>und</strong> landesweite Anerkennung ihrer Sachverständigenrolle. Diese Anerkennung war indes pri-<br />

mär formeller Art, war doch damit weder eine Veränderung der Stellung der Sachverständigen vor Ge-<br />

richt, noch eine Bindungswirkung psychiatrischer Gutachten verb<strong>und</strong>en. Die Strafrechtsreform modifi-<br />

zierte die Bedingungen kaum, unter denen das bürgerliche Strafrecht eine strukturelle Koppelung zwi-<br />

schen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> vorsah. Nuanciert wird die Bedeutung der Anerkennung der Experten-<br />

funktion ebenfalls durch den Umstand, dass die Ausdifferenzierung <strong>und</strong> Verfestigung einer psychiatrischen<br />

Sachverständigenrolle bereits vor der Strafrechtsreform eingesetzt hatte. Die im 2.Teil dieser Unter-<br />

suchung zu analysierende forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 zeigt<br />

deutlich, dass das neue Einheitsstrafrecht lediglich eine Begutachtungs- <strong>und</strong> Zusammenarbeitspraxis sank-<br />

tionierte, die zumindest in den grösseren Deutschschweizer Kantone schon seit längerem zum Justizalltag<br />

gehörte. Pragmatische Lernprozesse auf der Ebene der Justizpraxis, die sich in einer Zunahme psychiatri-<br />

scher Begutachtungen niederschlugen, nahmen demnach die Ergebnisse der f<strong>und</strong>amentalen Lernprozesse<br />

auf der Ebene der Rechtspolitik weitgehend vorweg. Eine eingespielte forensisch-psychiatrische Begutach-<br />

tungspraxis auf kantonaler Ebene kann sogar als eine wesentliche Voraussetzung dafür betrachtet werden,<br />

dass sich kriminalpolitische Lernprozesse im Rahmen der Rechtsvereinheitlichung überhaupt durchsetzen<br />

konnten, erlaubte sie doch das Einüben einer arbeitsteiligen Zusammenarbeit von Justizbeamten <strong>und</strong><br />

Psychiatern. Nicht zu unterschätzen ist allerdings auch, dass die Strafrechtsdebatte zweifellos zur Sensibili-<br />

sierung der Justizbeamten <strong>und</strong> Richtern für psychiatrische Reformanliegen beitrug. Insgesamt muss die<br />

Bedeutung der Strafrechtsdebatte für die Bildung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung der psychiatrischen Disziplin in<br />

der Schweiz somit relativiert werden. Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht freilich die Behandlungs-,<br />

Verwahrungs- <strong>und</strong> Versorgungsfunktionen der <strong>Psychiatrie</strong>, die durch die Strafrechtsreform deutlich ak-<br />

zentuiert wurden. Wie in Kapitel 11 zu zeigen sein wird, eröffnete die Umsetzung des neuen Massnah-<br />

menrechts der <strong>Psychiatrie</strong> ein Praxisfeld, das über die bisherige Verwahrungspraxis hinausging. Wesentlich<br />

dazu bei trugen die neu vorgesehenen sichernden Massnahmen gegen vermindert zurechnungsfähige De-<br />

linquentInnen. Dass diese Erweiterung des psychiatrischen Tätigkeitsbereichs nicht ohne Folgeprobleme<br />

blieb, ist bereits angesprochen worden.<br />

Auf der (rechts-)politischen Ebene gelang es den Schweizer Irrenärzten schliesslich, sich mit ihrer Ein-<br />

flussnahme auf die Strafrechtsreform erstmals als politisch relevante pressure group zu positionieren. Im Fall<br />

des Zivilgesetzbuches, nicht jedoch im Fall des projektierten Irrengesetzes vermochten die Psychiater<br />

diesen Erfolg zu wiederholen. Das starke Engagement der Disziplin für die Rechtseinheit hatte sogar zur<br />

Folge, dass wissenschaftliche <strong>und</strong> therapeutische Probleme zeitweise aus der Agenda des Verein schweizeri-<br />

scher Irrenärzte verdrängt wurden. Entscheidend zum Erfolg der psychiatrischen Rechtspolitik trug die Fä-<br />

higkeit der Disziplin bei, mit reformbereiten Juristen tragfähige Allianzen auszubilden. Dies setzte die<br />

Herausbildung gemeinsamer kriminalpolitischer Leitbilder voraus – im Fall der Strafrechtsreform des<br />

Leitbilds einer regulativen Kriminalpolitik, die in einzelnen Bereichen repressive durch medizinisch-<br />

pädagogische Sanktionsmittel ersetzte. Gesamthaft betrachtet, besiegelte die Schweizer Strafrechtsreform,<br />

wie sie in der b<strong>und</strong>esrätlichen Botschaft von 1918 enthalten war, einen Lernprozess, in dessen Verlauf das<br />

Leitbild einer auf die Justiz beschränkten strafrechtlichen Repression zusehends, wenngleich keineswegs<br />

gradlinig dem Leitbild einer arbeitsteiligen <strong>und</strong> unter Einschluss der Humanwissenschaften erfolgenden<br />

Kriminalitätsbekämpfung Platz machte.<br />

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