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Psychiatrie und Strafjustiz

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men der Strafrechtsdebatte befürchteten, von einem Zurückdrängen des institutionellen Zugriffs auf De-<br />

linquentInnen begleitet war. Vielmehr vollzog sich eine qualitative Verschiebung dieses Zugriffs. Immer<br />

mehr StraftäterInnen wurden in den Massnahmen- statt in den Strafvollzug versetzt. Für die Irrenanstalten<br />

hiess dies im Gegenzug, dass ihre Verwahrungsfunktion im strafrechtlichen Bereich akzentuiert wurde.<br />

Diagnosen <strong>und</strong> Delikte<br />

Fragt man nach strukturellen Regelmässigkeiten in der Berner Massnahmenpraxis, so stellt sich die Frage,<br />

inwiefern sich spezifische «Profile» «gemeingefährlicher» DelinquentInnen feststellen lassen. Als mögliche<br />

Indikatoren können dabei die von den psychiatrischen Sachverständigen gestellten Diagnosen <strong>und</strong> die<br />

begangenen Delikte dienen. Als Vergleichsgrösse lasen sich zudem die in den Kapiteln 6.2 <strong>und</strong> 6.3 erho-<br />

benen Verteilungen von Diagnosen <strong>und</strong> Delikten in der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis<br />

beiziehen. Allerdings ist bereits hier anzumerken, dass die «Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen<br />

das Produkt komplexer Zuschreibungsprozesse war, die sich in statistischen Kategorien nur bedingt erfas-<br />

sen lassen. Solche Zuschreibungsprozesse werden in den beiden folgenden Unterkapiteln untersucht.<br />

Gr<strong>und</strong>lage der folgenden Auswertungen sind die in Kapitel 6 analysierten drei Fünfjahresperioden (1896–<br />

1900, 1906–1910, 1912–1916). 1146 Die Angaben zur allgemeinen Begutachtungspraxis (Gutachten) sind<br />

aus den Tabellen 1 <strong>und</strong> 4 übernommen worden.<br />

Tabelle 7: Vergleich der gestellten Diagnosen bei Anträgen auf sichernde Massnahmen <strong>und</strong> Gutachten<br />

(Angaben in Prozent)<br />

Diagnosegruppen Sichernde Massnahmen Gutachten<br />

1. Angeborene Störungen 23,3 16,5<br />

2. Konstitutionelle Störungen 23,9 28,3<br />

3. Einfache Störungen 36,4 26,9<br />

4. Organische Störungen 1,7 2,9<br />

5. Epilepsie 5,1 6,9<br />

6. Intoxikationspsychosen 8,5 8,0<br />

7. Nicht geisteskrank 1,1 10,4<br />

100 (176) 1147 100 (375)<br />

Gemäss Tabelle 7 waren bei Anträgen auf sichernde Massnahmen im Vergleich zur allgemeinen Begutachtungspraxis<br />

Diagnosen aus den Gruppen der «einfachen» <strong>und</strong> der «angeborenen Störungen» deutlich stär-<br />

ker vertreten. Die «konstitutionellen Störungen» spielten dagegen bei sichernden Massnahmen eine etwas<br />

geringere Rolle. Sichernde Massnahmen gegen nicht geistesgestörte DelinquentInnen wurden nur in zwei<br />

Fällen beantragt. Bei einem Fall handelte es sich um einen «moralisch verkommenen» Mann, beim zweiten<br />

um einen Taubstummen. 1148 Sichernde Massnahmen kamen also tendenziell eher in Fällen zum Zug, in<br />

denen die Psychiater Diagnosen mit einem höheren Krankheitswert stellten, respektive Diagnosen, die mit<br />

ausgesprochenen intellektuellen Schwächen verb<strong>und</strong>en waren. Dennoch spielten auch «konstitutionelle<br />

Störungen» bei sichernden Massnahmen eine bedeutende Rolle. Diese Trends lassen sich bei beiden Ge-<br />

schlechtern gleichermassen feststellen. Allerdings wiesen bei den Anträgen auf sichernde Massnahmen –<br />

1146 Die Anträge auf sichernde Massnahmen verteilen sich wie folgt auf diese Fünfjahresperioden: 1896–1900: 38; 1906–1910: 80;<br />

1912–1916: 70. Ausgewertet wurden somit 188 Anträge.<br />

1147 In 12 Fällen fehlen Angaben zu den gestellten Diagnosen.<br />

1148 StAB A II, 1458, RRB 2832 <strong>und</strong> 3503.<br />

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