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Psychiatrie und Strafjustiz

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Straf- <strong>und</strong> Arbeitsanstalt zu errichten. Witzwil lag in einem Gebiet, das erst durch die Juragewässerkorrek-<br />

tion (1868–1891) für die landwirtschaftliche Nutzung gewonnen wurde. 1581 Der Ankauf der Domäne war<br />

von Beginn an eng mit dem Gedanken verknüpft gewesen, die dort untergebrachten Männer mit Meliora-<br />

tionen <strong>und</strong> landwirtschaftlichen Arbeiten zu beschäftigen. Ganz im Sinn des Strafvollzugsideals des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts sollte die Landarbeit eine erziehende <strong>und</strong> bessernde Wirkung haben. Zwar wurden Sträflinge<br />

auch in andern Kantonen für Meliorationen eingesetzt, doch stellte die konsequente Ausrichtung einer<br />

grossen Strafanstalt auf diesen einen Zweck für die damalige Schweiz ein Novum dar. 1582 Die Anstalts-<br />

gründung von Witzwil widerspiegelt somit eine Strafvollzugskonzeption, bei der Naturbeherrschung,<br />

landwirtschaftliche Kultivierung <strong>und</strong> Sozialdisziplinierung aufs Engste miteinander verzahnt wurden. In<br />

dieser Hinsicht diente Witzwil auch als Modell für die in den 1920er Jahren in der Linthebene geplante<br />

Verwahrungsanstalt.<br />

Seit der Inbetriebnahme im Jahre 1895 wurden in Witzwil verschiedene Kategorien männlicher Straftäter<br />

untergebracht. Nach Inkrafttreten des schweizerischen Strafgesetzbuchs wurden in Witzwil zum einen<br />

Gefängnisstrafen, kürzere Zuchthausstrafen an Ersttätern sowie sichernde Massnahmen, die in Einwei-<br />

sungen in Arbeits- <strong>und</strong> Trinkerheilanstalten bestanden, vollzogen. 1583 Zum andern diente Witzwil dem<br />

Vollzug von Massnahmen aufgr<strong>und</strong> Artikel 62 des Berner Armenpolizeigesetzes von 1912, der die An-<br />

staltseinweisung von «liederlichen», «arbeitsscheuen», geistig «minderwertigen» sowie jugendlichen Perso-<br />

nen erlaubte. Das Armenpolizeigesetz ermöglichte ebenfalls die Verhängung administrativer Massnahmen<br />

im Anschluss an vollzogene strafrechtliche Sanktionen. 1584 Im Sinn einer Entlassenenfürsorge bot Witzwil<br />

ehemaligen Insassen zudem die Möglichkeit, sich als «freie Kolonisten» im Arbeiterheim «Nusshof» nie-<br />

derzulassen. 1585 Aufgr<strong>und</strong> seines differenzierten Vollzugsangebots erfasste Witzwil eine grosse Zahl <strong>und</strong><br />

ein breites Spektrum an kriminell gewordenen <strong>und</strong> sozial abweichenden Männern. Ende 1945 befanden<br />

sich beispielsweise 306 Männer im dortigen Straf- <strong>und</strong> 183 Männer im Massnahmenvollzug. 1586<br />

Jakob Wyrsch, Oberarzt an der Waldau, nahm den Sprechst<strong>und</strong>endienst in Witzwil im Dezember 1943<br />

auf. 1944 <strong>und</strong> in den folgenden Jahren hielt er dort jährlich zwischen sechs <strong>und</strong> elf psychiatrische Sprech-<br />

st<strong>und</strong>en ab. In der gleichen Weise besuchte Wyrsch auch die Straf- <strong>und</strong> Verwahrungsanstalt Thorberg.<br />

Die Sprechst<strong>und</strong>en dauerten in der Regel einen halben Tag. Die Anstaltsleitung wies Wyrsch jeweils acht<br />

bis zehn Insassen zur Untersuchung zu. Einzelne Anstaltsinsassen wünschten auch von sich aus eine Un-<br />

terredung mit dem Psychiater. Nach den Sprechst<strong>und</strong>en erstattete Wyrsch der Anstaltsleitung jeweils ei-<br />

nen kurzen schriftlichen Bericht über jeden untersuchten Insassen <strong>und</strong> sprach sich über allfällig zu ergrei-<br />

fende Massnahmen aus. Nur in wenigen Fällen erstellte Wyrsch ein ausführlicheres Gutachten, wie es zur<br />

Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit üblich war. Dies geschah namentlich in Fällen von Untersuchungs-<br />

häftlingen, bei denen eine Einweisung in die Arbeitserziehungsanstalt zur Diskussion stand. 1587 In der<br />

Regel beschränkten sich die ein bis zwei Seiten umfassenden Berichte auf eine kurze Zusammenfassung<br />

des Sprechst<strong>und</strong>engesprächs, eine Schilderung des Geisteszustands des Exploranden <strong>und</strong> auf allfällige<br />

Empfehlungen zuhanden der Anstaltsleitung. Das Angebot der psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>e in Witzwil<br />

wurde nach der Einführung in wachsendem Masse in Anspruch genommen. 1944 wurden 51 Insassen<br />

untersucht, 1950 bereits 121. Zwischen 1944 <strong>und</strong> 1950 verdoppelte sich zugleich der Anteil der psychiat-<br />

1581 Pfister, 1995, 330; Junker, 1990, II, 296-306; Walter, 1990, 71-75.<br />

1582 Witzwil 1995; Janiak, 1976, 20-22; Schaffroth, 1898, 335-341.<br />

1583 Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1942, 29.<br />

1584 GDV, Band II (1901–1916), 663-703, Artikel 62<br />

1585 Witzwil, 1995, 61.<br />

1586 Jb. Witzwil, 1945.<br />

1587 Vgl. StAB BB 4.2, Band 180, Gutachten über Eduard L, 19. September 1948.<br />

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