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Psychiatrie und Strafjustiz

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falls viele Juristen angehörten. 691 Daneben bot ihnen die forensisch-psychiatrische Praxis viele <strong>und</strong> im<br />

Detail kaum zu rekonstruierende Möglichkeiten, um Kontakte zu Untersuchungsrichtern, Staatsanwälten,<br />

Richtern <strong>und</strong> Rechtsanwälten zu unterhalten. Auch wenn es im Kanton Bern zu keiner Institutionalisie-<br />

rung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern wie etwa in der Zürcher<br />

Psychiatrisch-juristischen Verreinigung kam 692, so waren die Berner Psychiater dennoch über die Irrenanstalten<br />

hinaus in tragfähige <strong>und</strong> für die forensische Praxis relevante Netzwerke eingeb<strong>und</strong>en.<br />

5.3 Der kognitive Horizont: Aneignung <strong>und</strong> Verankerung neuer psychiatrischer Deutungs-<br />

muster kriminellen Verhaltens<br />

Die Berner Psychiater der Jahrh<strong>und</strong>ertwende bildeten mit ihren Berufskollegen nicht nur persönliche<br />

Netzwerke, sie waren ebenfalls in das «Denkkollektiv» (Ludwig Fleck) der zeitgenössischen <strong>Psychiatrie</strong><br />

eingeb<strong>und</strong>en. Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel der Aneignung neuer psychiatrischer Deutungs-<br />

muster kriminellen Verhaltens. In Kapitel 4.2 ist bereits kurz auf die Ausführungen Glasers über den Stel-<br />

lenwert von «Charakteranomalien» für die psychiatrische Praxis hingewiesen worden. Tatsächlich rezipier-<br />

ten Berner Psychiater wie Glaser seit den 1880er Jahren die im Anschluss an die Degenerationstheorie<br />

entstandenen Deutungsmuster, denen gerade in forensischer Hinsicht besondere Relevanz zukam. Sie<br />

grenzten sich dadurch von traditionellen gerichtsmedizinischen Auffassungen der Geistesstörungen ab<br />

<strong>und</strong> erweiterten den Geltungsanspruch des psychiatrischen Wissens. So genannte «konstitutionelle Stö-<br />

rungen», die verschiedene Diagnosen aus dem psychiatrisch neu erschlossenen Übergangsgebiet zwischen<br />

Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit umfassten, bekamen in der forensisch-psychiatrischen Praxis seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

denn auch eine wachsende Bedeutung. Auch den Berner Psychiater erlaubte die Aneignung<br />

neuer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens, häufiger als bisher die strafrechtliche Verantwortlichkeit<br />

von DelinquentInnen zu problematisieren.<br />

Die Aneignung neuer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens<br />

Einen Ausgangspunkt für das Skizzieren dieses Aneignungsprozesses bietet das vom Berner Gerichtsme-<br />

diziner Carl Emmert um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende herausgegebene Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Im<br />

Kapitel «Zweifelhafte psychische Zustände» fasste Emmert unter dem Begriff der «psychischen Insuffi-<br />

zienz» jugendliches Alter, Mangel an Bildung, Taubstummheit <strong>und</strong> «moralisches Irresein» zusammen.<br />

Davon unterschied er «Blödsinn <strong>und</strong> Schwachsinn» <strong>und</strong> verschiedene psychotische Störungen wie Wahn-<br />

sinn, Paranoia, Alkoholismus, Hysterie <strong>und</strong> Epilepsie. Emmerts Klassifikation repräsentierte bereits beim<br />

Erscheinen des Werks eine überholte Lehrmeinung, die Geistesstörungen primär mit einer Schädigung des<br />

Verstands <strong>und</strong> Wahnvorstellungen identifizierte <strong>und</strong> von einer klaren Trennung von Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Krankheitszuständen ausging. Die im Anschluss an die Degenerationstheorie entwickelten Deutungsmus-<br />

ter wie die «psychopathische Persönlichkeit» berücksichtigte Emmert dagegen kaum. Ablehnend äusserte<br />

er sich zum Konzept des «moralischen Schwachsinns»: «Wir können der Annahme eines moralischen<br />

Irreseins in Folge mangels gewisser psychischer Centren, welche den moralischen Sinn vermitteln sollen,<br />

indem es keine Centren für so complizierte psychische Zustände gibt, wie sie die ethischen <strong>und</strong> morali-<br />

schen Gefühle voraussetzen. Ebenso wenig gibt es im Sinne Lombrosos einen geborenen Verbrecher. Die<br />

691 Speyr, 1909; Glaser, 1911; zu Goods Referat vor dem Juristenverein: SANP, 47, 1941, 298. Dem Hilfsverein gehörten unter<br />

anderem Fürsprecher, Oberrichter, Gerichtsschreiber, Untersuchungsrichter, Polizeiinspektoren an. Vgl. die Mitgliederliste in Jb.<br />

Hilfsverein, 1912, 59-191; Schwarz, 1954.<br />

692 Holenstein, 1996, 153-155.<br />

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