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Psychiatrie und Strafjustiz

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psychiatrische Praxis zu nutzen, fester Bestandteil der psychiatrischen Theoriebildung. Wichtige Anstösse<br />

dazu gingen nicht zuletzt von den Herausforderungen aus, welche die Theorien der italienischen Krimi-<br />

nalanthropologen für die forensische <strong>Psychiatrie</strong> darstellten. Im Rahmen des Psychopathiekonzepts stabi-<br />

lisierten sich um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende schliesslich diejenigen Deutungsmuster kriminellen Verhaltens,<br />

welche die Monomanielehre definitiv verdrängen <strong>und</strong> die forensisch-psychiatrische Praxis bis weit ins 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert hinein prägen sollten. Dieser langfristige Ausdifferenzierungsprozess auf der Ebene des psy-<br />

chiatrischen Wissens wird nachfolgend unter drei Aspekten dargestellt: der erste Abschnitt skizziert die<br />

Entstehung der Degenerationstheorie im Hinblick auf die Entwicklung neuer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens, die<br />

nächsten beiden Abschnitte behandeln die Theorien der italienischen Kriminalanthropologen sowie deren Rezep-<br />

tion in Frankreich <strong>und</strong> Deutschland, im letzten Abschnitt werden schliesslich Systematisierung <strong>und</strong> Ausdiffe-<br />

renzierung des Psychopathiekonzepts in der deutschsprachigen <strong>Psychiatrie</strong> analysiert. Ein Fazit fasst die Untersu-<br />

chungsergebnisse in Bezug auf die Veränderung des Umgangs der bürgerlichen Gesellschaft mit abwei-<br />

chendem Verhalten zusammen.<br />

Degenerationstheorie <strong>und</strong> Vererbungsparadigma<br />

Begründet wurde die Degenerationstheorie durch den französischen Psychiater Benedict Augustin Morel<br />

(1809–1873) in dessen Traité sur la dégénérescence von 1857. Aufgr<strong>und</strong> seiner Berufserfahrungen in nordfran-<br />

zösischen Irrenanstalten gelangte Morel zum Schluss, dass die Mehrheit der Geistesstörungen auf die Ver-<br />

erbung einer krankhaften Konstitution zurückzuführen sei. Morel bezeichnete die dégénérescence als progres-<br />

siven Entartungsprozess, der über mehrere Generationen hinweg von einem ursprünglichen «type normal<br />

de l’humanité» bis zum Untergang der Deszendenzlinie führen müsse. Einmal in Gang gesetzt, würde<br />

dieser Prozess durch die Vererbung pathologischer Konstitutionen oder eigentlicher Geisteskrankheiten<br />

vorangetrieben, wobei die betroffenen Individuen von körperlichen Missbildungen, so genannten «Dege-<br />

nerationszeichen», gezeichnet seien. In der Tradition neolamarckistischer Vererbungstheorien nahm Morel<br />

an, dass dieser Entartungsprozess zu einem guten Teil durch schädliche Umwelteinflüsse wie Alkoholkon-<br />

sum, Geschlechtskrankheiten oder mangelhafte Ernährung beeinflusst werde. Ebenfalls in sein Konzept<br />

integrierte Morel bestehende psychiatrische Deutungsmuster kriminellen Verhaltens, namentlich die Spe-<br />

zialmanien, die er unter die Gruppe der folie héréditaire subsumierte. Morels Vererbungsparadigma erlaubte<br />

den französischen Psychiatern, den organischen Charakter solcher Geistesstörungen zu unterstreichen<br />

<strong>und</strong> deren Erkennung <strong>und</strong> Behandlung zu beanspruchen. 228<br />

Weiterentwickelt wurde die Degenerationstheorie in den 1880er Jahren vor allem durch den Pariser Psy-<br />

chiater Valentin Magnan (1835–1916), der im dégénéré nicht mehr eine Abweichung von einem religiös<br />

f<strong>und</strong>ierten, ursprünglichen Normaltypus, sondern von dem durch die Evolution vorgezeichneten Weg zur<br />

Höherentwicklung des Menschengeschlechts sah. Aufgr<strong>und</strong> seiner klinischen Untersuchungen definierte<br />

Magnan die dégénérescence als «état pathologique de l’être qui, comparativement à ses générateurs les plus<br />

immédiats, est constitutionnellement amoindri dans sa résistance psycho-physique et ne réalise<br />

qu’incomplètement les conditions biologiques de la lutte héréditaire pour la vie». 229 Degeneration bedeute-<br />

te für Magnan primär das Vererben eines «fonds dysharmonique», der die natürliche psycho-physische<br />

Widerstandskraft eines Individuums gegenüber äusseren Einflüssen <strong>und</strong> inneren Antrieben schwäche. Wie<br />

Morel ging Magnan davon aus, dass die dégénérescence eines Individuums nicht zwangsläufig von Intelli-<br />

genzdefiziten begleitet sein musste <strong>und</strong> sich auf Störungen der Affekte <strong>und</strong> des Willens beschränken<br />

228 Vgl. Renneville, 1999; Roelcke, 1999, 83-88; Debuyst, 1998, 404-427; Jeanmonod, 1996, 32-43; Debuyst, 1995, 268-281; Coffin,<br />

1994; Dowbiggin, 1989; Weingart/Kroll/Bayertz, 1992, 42-50; Pick, 1989, 44-59; Mann, 1985; Werlinder, 1978, 52-68.<br />

229 Valentin Magnan, Paul Maurice Legrain, Les dégénérés, Paris 1895, 79, zitiert: Jeanmonod, 1996, 40.<br />

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