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Psychiatrie und Strafjustiz

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2. Teil: Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis: Das Bei-<br />

spiel des Kantons Bern<br />

Am 1. September 1906 erschoss die Exilrussin Tatjana Leontieff 609 im Speisesaal des Luxushotels «Vikto-<br />

ria-Jungfrau» in Interlaken den aus Paris stammenden Rentier Müller. Leontieff, die sich seit einigen Mo-<br />

naten in der Schweiz aufhielt <strong>und</strong> Kontakte zur sozialrevolutionären Bewegung unterhielt, vermeinte in<br />

Müller einen ehemaligen russischen Minister zu erblicken, den sie für «Verbrechen <strong>und</strong> Morde an der<br />

fortschrittlich gesinnten russischen Bevölkerung» verantwortlich machte. Die tragische Verwechslung im<br />

Interlakener Luxushotel sorgte im In- <strong>und</strong> Ausland für Aufsehen <strong>und</strong> die Zeitungskommentare zögerten<br />

nicht, Leontieff in die Tradition eines Guiteau oder Lucheni zu rücken. Der Fall beschäftigte jedoch nicht<br />

nur die Öffentlichkeit <strong>und</strong> die Justiz, sondern auch die Berner <strong>Psychiatrie</strong>. Nachdem bekannt geworden<br />

war, dass Leontieff bereits in Sankt Peterburg in einer Irrenanstalt versorgt gewesen war, ordnete der zuständige<br />

Untersuchungsrichter eine eingehende Begutachtung von Leontieffs Geisteszustand an. Die da-<br />

mit betrauten Ärzte der Irrenanstalt Münsingen erstatteten den Justizbehörden im November 1906 ein<br />

ausführliches Gutachten, in dem sie sich nicht nur eingehend mit dem Geisteszustand der Explorandin,<br />

sondern auch mit einen allfälligen «psychologischen Zusammenhang» zwischen «den seit Jahren herr-<br />

schenden politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Zuständen Russlands einerseits <strong>und</strong> den Anschauungen <strong>und</strong><br />

dem Charakter der Angeschuldigten <strong>und</strong> der Straftat andererseits» auseinandersetzten. Insbesondere dis-<br />

kutierten sie die Frage, ob Leontieff an einem «politischen Wahnsinn» litt, wie ihn Richard von Krafft-<br />

Ebing in seiner Gerichtlichen Psychopathologie beschrieben hatte. Obwohl die beiden Sachverständigen eine<br />

solche «Paranoia politica» wie auch eine andere Geistesstörung ausschlossen, waren sie sich schliesslich<br />

einig, dass es sich bei diesem Mord keineswegs um ein «normales» Verbrechen handeln könne: «Diese im<br />

Taumel der politischen oder religiösen Erregung geborenen Handlungen vertragen denn auch in straf-<br />

rechtlicher Beziehung nicht mehr dieselbe Beurteilung, wie wenn dieselben Handlungen von denselben<br />

Menschen in ruhigen Zeiten ausgeführt worden wären.» Der «Taumel», in dem sich das Russische Reich<br />

seit der Revolution von 1905 befände, habe bei Leontieff eine «sehr erhebliche Beeinträchtigung des sog.<br />

freien Willens» zur Folge gehabt. Dies umso mehr, als diese seitens ihrer Mutter erblich «schwer belastet»<br />

sei. Aufgr<strong>und</strong> ihrer «psychopathischen Natur» billigten die beiden Irrenärzte Leontieff schliesslich eine<br />

verminderte Schuldfähigkeit zu. Gestützt auf das Münsinger Gutachten, verurteilte das Berner Geschwo-<br />

renengericht Leontieff im März 1907 zu vier Jahren Zuchthaus. Bereits ein Jahr später wurde Leontieff<br />

jedoch als geistesgestört in die Irrenanstalt Münsingen zurückversetzt, wo sie bis zu ihrem Tod interniert<br />

blieb. 610<br />

Tatjana Leontieff war eine der vielen Frauen <strong>und</strong> Männer, die von den Berner Justizbehörden um die<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende zur Untersuchung ihres Geisteszustands in eine kantonale Irrenanstalt überwiesen<br />

wurden. Angesicht der über 800 strafrechtlichen Begutachtungsfälle im Kanton Bern zwischen 1885 <strong>und</strong><br />

1920 verblasst die aussergewöhnliche Tragweite des Interlakener Mordfalls gleichsam. Der «Fall Leontieff»<br />

609 Da der Name Leontieffs aus Presseberichten bekannt ist, wird hier auf eine Anonymisierung verzichtet.<br />

610 StAB BB 15.4, Band 1820, Dossier 433, Psychiatrisches Gutachten der Irrenanstalt Münsingen, 16. November 1906; Verhandlungen<br />

der Assisen in Thun, 25.-28. März 1907 (Kopie). Die Gerichtsakte enthält ebenfalls verschiedene Zeitungsausschnitte zum<br />

Fall. So etwa ein Artikel aus der Humanité vom 5. Februar 1907, in dem Jean Jaurès die Tat Leontieffs als Lehrbeispiel für einen<br />

fehl geleiteten Radikalismus bezeichnete. Zur Bildung einer sozialrevolutionären Bewegung unter den Exil-RussInnen in der<br />

Schweiz: Gruner/Dommer, 1988, 461-486, 485, Fussnote 123 mit Verweis auf den Interlakener Mordfall. Zu Krafft-Ebings<br />

Konzept der «Paranoia politica»: Krafft-Ebing, 1892, 146-155. Die Sachverständigen <strong>und</strong> die Kriminalkammer bezogen sich in<br />

ihrer Argumentation auf die Ausgabe der Gerichtlichen Psychopathologie von 1900. Die Kriminalkammer nahm zudem Bezug auf die<br />

Ausführungen Forels zum italienischen Anarchismus (Forel, 1907). Zur Internierung Leontieffs in Münsingen: StAB A II, Band<br />

1474, RRB 3488, 20. Juli 1910.<br />

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