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Psychiatrie und Strafjustiz

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Schwager: «Ich glaube, es fehlt ihm im Kopf, sonst hätte er trotz Abwehren seines Vaters nicht immer<br />

neue Streiche gemacht. [...] Ich könnte es mir sonst nicht erklären, aus welchen Gründen er das Haus an-<br />

gezündet hätte.» Auch einem Zellengenossen in der Untersuchungshaft erschien Jakob M. als «verhür-<br />

schet». Wenig vorteilhaft lautete auch die Aussage seines ehemaligen Lehrers: «Ich halte nun 25 Jahre<br />

Schule, aber ich darf wohl sagen, keiner meiner Schüler hat mich so geärgert durch sein Aufführen <strong>und</strong><br />

Betragen wie dieser.» Jakob M. sei «unbeliebt» bei den Mitschülern <strong>und</strong> «jähzornig» gewesen, daneben<br />

habe er es mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Zuweilen hatte der Lehrer den Eindruck, dass<br />

Jakob M. «im Kopf nicht ganz normal» sei, wenngleich er «ziemlich begabt» sei <strong>und</strong> seine Schulleistungen<br />

befriedigend gewesen seien. 796<br />

Die Einschätzung von Jakob M. durch Verwandte <strong>und</strong> seinen Lehrer fiel keineswegs eindeutig aus. Auf<br />

der einen Seite hielt man ihn «nicht bei Sinnen», als «im Kopf nicht normal», andererseits attestierte man<br />

ihm eine gewisse Begabung. Seine Verwandten hielten ihm in erster Linie seine Streiche, sein Lügen <strong>und</strong><br />

seinen «Jähzorn» vor. Lediglich der Schwager brachte den Geisteszustand seines Neffen direkt mit der Tat<br />

in Verbindung. Zeugenaussagen über den Geisteszustand eines Delinquenten unterschieden aber sehr<br />

wohl zwischen kleineren Verhaltensauffälligkeiten, wie man sie bei Jakob M. feststellte, <strong>und</strong> schwereren<br />

Geistesstörungen. So waren sich im Fall des Bauernknechts Christian G., der sich in seinem Zimmer ver-<br />

barrikadiert, um sich geschossen <strong>und</strong> bei der Festnahme einen Landjäger schwer verletzt hatte, die meisten<br />

Zeugen einig, dass er «geistesgestört» sei. Ein Nebenknecht deponierte, dass Christian G. «viel stürmte»<br />

<strong>und</strong> stets meinte, man spreche von ihm, wenn die Leute miteinander redeten. Auch die Meistersfrau sagte<br />

vor dem Untersuchungsrichter aus: «G. hörte Stimmen an allen Ecken, er war ganz gestört. [...] Seit Neu-<br />

jahr stürmte er von Tag zu Tag mehr.» Bekannt war den ZeugInnen zudem, dass Christian G. seine frühe-<br />

re Tätigkeit als Fährmann aufgeben musste, «weil er gestört war». Diese Angaben deckten sich mit der<br />

Einschätzung des Gemeinderates, der in seinem Leum<strong>und</strong>szeugnis vermerkte: «G. litt schon seit längerer<br />

Zeit an Verfolgungswahn, doch hat er nie Drohungen ausgestossen, war aber im Gegenteil sehr ängstlich<br />

<strong>und</strong> furchtsam.» Zu einem anders lautenden Schluss kam dagegen der Dorfarzt, der Christian G. als «lau-<br />

nischen, jähzornigen Menschen» bezeichnete. Dieser sei aber auch seiner Meinung nach nicht recht zu-<br />

rechnungsfähig. 797<br />

Die Fälle von Jakob M. <strong>und</strong> Christian G. verdeutlichen, wie eng sich die Begutachtungsbeschlüsse der<br />

Untersuchungsbehörden an Wahrnehmungen <strong>und</strong> Vorstellungen aus dem lebensweltlichen Umfeld der<br />

Delinquenten anschliessen konnten. Entscheidend war in solchen Fällen weniger das Vorhandensein von<br />

präzisen Aussagen über den Geisteszustand, als vielmehr das Artikulieren von oft widersprüchlichen Ver-<br />

dachtsmomenten, welche die «Normalität» der Angeschuldigten in Frage stellten. Alltagsvorstellungen<br />

über «Normalität» <strong>und</strong> Abweichung bildeten auf diese Weise nicht selten den Auftakt zu einer Medikalisie-<br />

rung kriminellen Verhaltens – nota bene zu einem Zeitpunkt, als die psychiatrischen Sachverständigen von<br />

der Existenz eines Kriminalfalls meist noch keine Ahnung hatten.<br />

Ein Spezialfall bildete die Anordnung eines Gutachtens aufgr<strong>und</strong> des Verhaltens in der Untersuchungshaft. In<br />

solchen Fällen konvergierten die Bemühungen der Behörden, einen reibungslosen Strafvollzug aufrecht-<br />

zuerhalten, mit der Pflicht der Untersuchungsbehörden, zweifelhafte Geisteszustände untersuchen zu<br />

lassen. So wurde Ernst R., der gemäss Zeugenaussagen «schon immer etwas gesponnen <strong>und</strong> blagiert» hat-<br />

te, erst dann in die Waldau zur Begutachtung überwiesen, nachdem er in der Haft einen Selbstmordver-<br />

796 StAB BB 15.4, Band 1842, Dossier 549, Psychiatrisches Gutachten über Jakob M., 17. November 1907; Beschluss des Untersuchungsrichters<br />

zur Anordnung eines Gutachtens, 21. Oktober 1907.<br />

797 UPD, KG 7128, Psychiatrisches Gutachten über Christian G., 23. April 1913.<br />

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