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Psychiatrie und Strafjustiz

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zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch von 1893 orientierte, auf den in Kapitel 4 zurückzukommen<br />

sein wird. 326 Im Gegensatz zu Ferri oder Kraepelin stellten weder von Liszt, noch sein Schweizer Kollege<br />

Carl Stooss (1849–1934) das Prinzip der Zurechnungsfähigkeit als solches in Frage. Dagegen forderten sie<br />

eine rein medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit sowie die Einführung einer verminderten<br />

Schuldfähigkeit. 327 Von Liszt definierte die Zurechnungsfähigkeit durch das Fehlen einer psychischen<br />

Störung <strong>und</strong> nicht durch die abstrakten Kriterien der Strafeinsicht <strong>und</strong> der Willensfreiheit, auf welche sich<br />

die bisherige Gesetzgebung meist gestützt hatte: «Wer auf Motive in normaler Weise reagiert, ist zurech-<br />

nungsfähig. Die Zurechnungsfähigkeit entfällt mit jeder Störung des Seelenlebens, sei es im Gebiet des<br />

Vorstellens oder des Empfindens oder des Wollens, durch welche die Reaktion anormal, atypisch gestaltet<br />

wird.» 328 Als «normal» bezeichnete er lediglich jene Individuen, die sich für die Abschreckungs- oder Bes-<br />

serungswirkung der Strafe empfänglich zeigten. Eine solche Definition der Zurechnungsfähigkeit musste<br />

in der Praxis zu einer beträchtlichen Relativierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> zu einer<br />

forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens führen. So stellte von Liszt denn auch die Gruppe der<br />

als «unverbesserlich» <strong>und</strong> «minderwertig» bezeichneten «Gewohnheitsverbrecher» mit den Geisteskranken<br />

auf eine Ebene. 329 Mit der Einführung einer verminderten Zurechnungsfähigkeit wollte er zudem dem von<br />

der <strong>Psychiatrie</strong> konzipierten Übergangsbereich zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit Rechnung tragen.<br />

Sowohl der Schweizer Vorentwurf als auch von Liszts Reformkonzept sahen die Integration sichernder<br />

Massnahmen gegen unzurechnungsfähige <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähige «gemeingefährliche» Delin-<br />

quentInnen ins Strafrecht vor. 330 Bisher waren solche Massnahmen in Deutschland nur auf der Ebene des<br />

Verwaltungsrechts <strong>und</strong> nur gegen vollständig unzurechnungsfähige Personen verhängt worden. 331 Mit der<br />

Ausweitung auf vermindert zurechnungsfähige DelinquentInnen hofften die Reformer, namentlich die<br />

von der <strong>Psychiatrie</strong> als «psychopathisch» bezeichneten Straffälligen neuen institutionellen Zugriffen zu<br />

unterwerfen. 332 1904 legte von Liszt entsprechenden Gesetzesentwurf zum «Schutz der Gesellschaft gegen<br />

gemeingefährliche Geisteskranke <strong>und</strong> vermindert Zurechnungsfähige» vor. Demnach sollten Strafrichter<br />

die Möglichkeit haben, gegen solche DelinquentInnen die Entmündigung zu beantragen <strong>und</strong> eine vorsorg-<br />

liche Internierung in einer Irrenanstalt anzuordnen. 333<br />

Der Rückgriff auf medizinische Deutungskompetenzen <strong>und</strong> die Ausweitung des institutionellen Zugriffs<br />

der <strong>Psychiatrie</strong> waren integrale Bestandteile der von den Reformern postulierten Umgestaltung des Strafrechts.<br />

Dieser Reformanspruch war das Ergebnis eines Lernprozesses, der in kriminalpolitischer Hinsicht<br />

schliesslich zu einer teilweisen Preisgabe der Gr<strong>und</strong>sätze des bürgerlichen Strafrechts aus der ersten Hälfte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts führte. Die im Anschluss an die Degenerationstheorie <strong>und</strong> die kriminalanthropologi-<br />

schen Theorien entwickelten psychiatrischen Deutungsmuster bestärkten die Auffassung vieler Juristen,<br />

dass die Gesellschaft allein durch eine vermehrte Täterorientierung des Strafrechts wirkungsvoll vor<br />

Verbrechen geschützt werden könne. Die Bemühungen der Justiz sollten sich demnach weniger auf die<br />

Vergeltung einer zurückliegenden Straftat, als auf eine zweckmässig Behandlung der einzelnen Verbrecher<br />

im Hinblick auf deren künftiges Verhalten richten. An die Stelle eines am Legalitäts- <strong>und</strong> Gerechtigkeits-<br />

326 Liszt, 1905a, 105f.<br />

327 Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 anerkannte im Gegensatz zu den aufgehobenen Strafgesetzbücher vieler deutscher Länder<br />

keine verminderte Zurechnungsfähigkeit, dies obwohl die Königlich Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen<br />

1869 eindringlich deren Beibehaltung gefordert hatte. Leichtere Geistesstörungen konnten von der deutschen Rechtsprechung<br />

damit lediglich in Form mildernder Umstände berücksichtigt werden; vgl. Gschwend, 1996, 326-340.<br />

328 Liszt, 1897, 75.<br />

329 Liszt, 1897, 81f.<br />

330 Liszt, 1905c, 405f.<br />

331 Wetzell, 1996, 281; Aschaffenburg, 1912, 27-29.<br />

332 Vgl. Wetzell, 2000, 79-96.<br />

333 Liszt, 1904; Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 11, 1904, 637-658.<br />

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