13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Medikalisierung <strong>und</strong> Demedikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

Die strukturelle Koppelung der Bezugssysteme <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> mittels des Rechtsbegriffs der<br />

Zurechnungsfähigkeit war eine Voraussetzung dafür, dass im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts medizinische<br />

Beurteilungskriterien seitens des Justizsystems zunehmend auf Resonanz stiessen. Kriminelles Verhalten<br />

wurde dadurch in wachsendem Ausmass Gegenstand medizinischer Deutungsmuster sowie Behandlungs-<br />

<strong>und</strong> Versorgungskonzepten. Dieser keineswegs kontinuierlich verlaufende Prozess soll im Folgenden unter<br />

dem Begriff der Medikalisierung subsumiert werden. Gemäss Ute Frevert umfasst das Konzept der Medikali-<br />

sierung «all jene Prozesse <strong>und</strong> Strukturen [...], die auf die Einbindung von Individuen, Familien, Schichten<br />

<strong>und</strong> Klassen in ein komplexes System medizinischer Institutionen hinzielten». Damit verb<strong>und</strong>en ist die<br />

«Ausdifferenzierung einer besonderen Krankheitsrolle» <strong>und</strong> die Etablierung medizinischer Beurteilungs-<br />

kriterien <strong>und</strong> Differenzschemata auf der «Ebene der Normen <strong>und</strong> Deutungsmuster». 45 Auf die Bedeutung<br />

solcher Medikalisierungsprozesse im Zusammenhang mit kriminellem Verhalten hat namentlich Michel<br />

Foucault hingewiesen. Foucault beschreibt in Überwachen <strong>und</strong> Strafen, wie die Logik des Justizsystems zu-<br />

nehmend von einer «ganzen Reihe abschätzenden, diagnostischen, prognostischen, normativen Beurteilungen<br />

des kriminellen Individuums» überlagert worden sei. Zunächst lediglich zur Beurteilung des<br />

Rechtsbegriffs der Zurechnungsfähigkeit beigezogen, hätten sich psychiatrische Sachverständige zuneh-<br />

mend auch über die Zweckmässigkeit <strong>und</strong> die Dauer von Behandlungs- <strong>und</strong> Sicherungsmassnahmen aus-<br />

zusprechen gehabt. 46 Die wachsende Präsenz eines humanwissenschaftlichen Strafwissens in der Straf-<br />

rechtspflege habe dazu geführt, dass sich die anfänglichen Funktionen der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong>, began-<br />

genes Unrecht zu vergelten <strong>und</strong> potenzielle Täter abzuschrecken, zugunsten der spezialpräventiven Auf-<br />

gabe verschoben hätten, mittels regulierender Eingriffe zu einer Normalisierung abweichenden Verhaltens<br />

beizutragen. 47 Der Begriff der «Normalität» sei dadurch zu einem gemeinsamen Bezugspunkt juristischer<br />

<strong>und</strong> medizinisch-psychiatrischer Interventionen geworden. In letzter Konsequenz würde, so Foucault,<br />

nicht mehr das begangene Verbrechen, sondern die konstatierte Abweichung des verbrecherischen Indivi-<br />

duums von einer physiologischen Durchschnittsnorm über die Art <strong>und</strong> Dauer strafrechtlich-<br />

administrativer Sanktion entscheiden. 48<br />

In Foucaults Perspektive sind Medikalisierungs- zugleich Normalisierungsprozesse. 49 Im Anschluss an die<br />

Arbeiten Foucaults <strong>und</strong> Georges Canguilhems hat Jürgen Link auf den konstitutiven Charakter solcher<br />

Normalisierungsprozesse für die Moderne hingewiesen. Unter «Normalisierung» versteht Link zunächst<br />

kognitive Verfahren, die dazu dienen, Phänomene «in ein Feld vergleichbarer anderer Phänomene» einzu-<br />

reihen, das heisst die Komplexität sozialer Phänomene im Hinblick auf eine (statistische) Durchschnitts-<br />

norm zu strukturieren. Solche Normalitätsdispositive schaffen zugleich Ansatzpunkte für regulative Inter-<br />

ventionen innerhalb der Gesellschaft. 50 Normalisierungsprozesse haben insofern systemübergreifenden<br />

Charakter, als sie geeignet sind, mittels der Leitdifferenz «Normalität»/«Abnormität» die Operationen<br />

verschiedener Bezugssysteme zu koordinieren. 51 Was die Konzeption des Verhältnisses von Normalitäts-<br />

<strong>und</strong> Abnormitätsbereichen anbelangt, unterscheidet Link zwischen «protonormalistischen Strategien», die<br />

45 Frevert, 1984, 15f.<br />

46 Foucault, 1976, 27-32.<br />

47 Foucault, 1977, 172.<br />

48 Foucault, 1976, 323f.<br />

49 Vgl. Foucault, 1976, 229-238; Link, 1999, 132-141.<br />

50 Link, 1999, 18, 77.Wie die Beiträge in Sohn/Mehrtens, 1999 zeigen, herrscht in der sozialwissenschaftlichen Literatur über die<br />

Verwendung des Normalisierungsbegriffs keineswegs Klarheit. Normalisierung wird sowohl im Sinne eines kognitiven Verfahrens,<br />

als auch im Sinne einer (zwangsweisen) Anpassung von Verhaltensweisen an eine Norm, also im Sinne von Sozialdisziplinierung,<br />

verwendet. Zum Normalisierungskonzept <strong>und</strong> seiner Verankerung in der Wissenschaftspraxis: Sarasin/Tanner, 1998; Lepenies,<br />

1976; Canguilhem, 1966.<br />

51 Link, 1999, 25, Anm. 9.<br />

19

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!