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Psychiatrie und Strafjustiz

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stand <strong>und</strong> den Charakter von DelinquentInnen auf eine Zukunftserwartung zu beziehen. Im Sinn einer<br />

regulativen Kriminalpolitik handelte es sich darum, potenzielle «Gefahren» vorausblickend zu erfassen, in<br />

kalkulierbare Risiken zu transformieren <strong>und</strong> der administrativ-juristischen Bearbeitung zuzuführen. 1185<br />

Rückfallserwartungen<br />

In allen vier untersuchten Fällen äusserten sich die psychiatrischen Sachverständigen über die Erwartung<br />

eines Rückfalls. So hiess es im Gutachten über den wegen Sittlichkeitsdelikten verurteilten Ernst S.: «Auch<br />

nach der grössten gesetzlich zulässigen Strafe wären Rückfälle, die mit einer grossen moralischen Schädi-<br />

gung der betroffenen Opfer verb<strong>und</strong>en sein würden, fast mit Sicherheit zu erwarten.» 1186 Ähnlich lautete<br />

das Gutachten über Fritz W., der sich an zwei Mädchen vergangen hatte: «[...] so sind auch in Zukunft<br />

ähnliche Delikte bei W. mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten [...]». 1187 In beiden Fällen ging es um die<br />

Wiederholung eines ähnlichen Delikts wie das bereits begangene.<br />

Bei Eugen L. befand das Gutachten: «Eine Bestrafung wird denn auch für L. künftig so wenig als bisher<br />

eine Vorbeugemassregel gegen fernere Straftaten bedeuten.» 1188 Dieser Fall unterschied sich von den bei-<br />

den vorherigen Fällen insofern, als Eugen L. gegenüber den Psychiatern konkrete Drohungen ausgespro-<br />

chen hatte. Bei seiner Verhaftung hatte Eugen L. angegeben, er beabsichtige, nach Stuttgart zu reisen, um<br />

dort seine Mutter <strong>und</strong> den Stiefvater mit einem Revolver zu erschiessen, da sie seinerzeit seine Internie-<br />

rung in einer Irrenanstalt veranlasst hätten. Ähnliche Aussagen machte er gegenüber den psychiatrischen<br />

Sachverständigen. Er müsse nach Stuttgart zurück, um seine Angehörigen, die an seinem «bisherigen ver-<br />

pfuschten Leben» Schuld seien, «wegzuschaffen». Dementsprechend vermerkte das Gutachten: «Übrigens<br />

ist es keineswegs ausgeschlossen, dass er die Drohung, in Stuttgart seine Angehörigen zu ermorden, auch<br />

bei erhaltenen Bewusstsein ausführen wird, sobald er hierzu die günstige Gelegenheit finden wird.» 1189 An<br />

diese Argumentation schloss auch der Regierungsrat an: «Die Annahme der Gemeingefährlichkeit [...]<br />

stützt sich vor allem auf die Tatsachen, dass L. mehrfach tödlichen Hass gegen seine nächsten Angehöri-<br />

gen geoffenbart <strong>und</strong> die Absicht geäussert hat, Mutter, Schwester <strong>und</strong> Stiefvater in Stuttgart ‹zusammen-<br />

zuschiessen›». 1190 Bei Eugen L. gaben somit weniger die relativ geringfügigen Diebstähle <strong>und</strong> Betrügereien,<br />

die er sich hatte zuschulden lassen, sondern der angedrohte Angriff gegen seine Familie den Ausschlag<br />

zum Konstatieren einer «Gemeingefährlichkeit». Die Tatsache, dass er sich bereits mit einer Pistole be-<br />

waffnet hatte, bestärkte in den Augen der Psychiater <strong>und</strong> des Regierungsrats den Eindruck, dass seinen<br />

Drohungen auch Taten folgen würden.<br />

Wie in den Fällen von Ernst S. <strong>und</strong> Eugen L. stellte das psychiatrische Gutachten auch bei Gottfried A.,<br />

der wegen Mordes angeklagt war, eine Wirkungslosigkeit der bisherigen Strafen fest: «Alle bisherigen Strafen<br />

sind denn auch an dem unkorrigierbaren Trinker an dessen Gemütsstumpfheit- oder -verhärtung wir-<br />

kungslos abgeprallt. Hierdurch hat sich Explorand als ein in hohem Grade gemeingefährlicher Mensch<br />

erwiesen, vor welchem die Gesellschaft dauernd zu schützen ist.» 1191 Gottfried A. stand 1908 tatsächlich<br />

nicht zum ersten Mal vor Gericht. Er war 1884 bestraft worden, als er einem Fre<strong>und</strong> im Rausch ein Beil<br />

angeworfen hatte. Im Herbst 1900 ging er mit einem Messer auf die Frau seines Meisters los, die ihm, wie<br />

er meinte, seinen Zahltag vorenthalten wollte. Gegenüber den Psychiatern bezeichnete er diese Tat als<br />

1185 Vgl. zum Risikobegriff: Evers/Nowotny, 1987, sowie die Ausführungen zur Konzeption einer regulativen Kriminalpolitik im<br />

Sinne einer Risikoprophylaxe in Kapitel 3.2.<br />

1186 StAB Bez. Bern, Band 3263, Dossier 628, Gutachten über Ernst S., 2. Februar 1904.<br />

1187 StAB BB 15.4, Band 1842, Dossier 457, Gutachten über Fritz W., 15. November 1907.<br />

1188 PZM KG 3317 (3342), Gutachten über Eugen L., o.D. [1908]<br />

1189 PZM KG 3317 (3342), Gutachten über Eugen L., o.D. [1908].<br />

1190 StAB A II, Band 1470, RRB 926.<br />

1191 StAB BB 15.4., Band 1848, Dossier 582, Gutachten über Gottfried A., 1. Mai 1908.<br />

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