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Psychiatrie und Strafjustiz

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chiatrische Modell der «verminderten Widerstandskraft» <strong>und</strong> begründete dadurch die Milderung der Strafe.<br />

In einzelnen Fällen verstärkte die Kriminalkammer die in den Gutachten enthaltene Tendenz zur Patholo-<br />

gisierung sozialer Devianz sogar zusätzlich. Beim erwähnten Paul C. erkannten die Geschworenen in<br />

Übereinstimmung mit dem Gutachten der Waldau <strong>und</strong> den Plädoyers von Anklage <strong>und</strong> Verteidigung auf<br />

verminderte Zurechnungsfähigkeit. Während das Gutachten jedoch betont hatte, dass es sich bei Paul C.<br />

nicht um eine «eigentliche Verbrecher-Natur» handle, hiess es in der Urteilsbegründung: «C. scheint [...]<br />

ein nicht ungefährlicher, verbrecherisch veranlagter, moralisch gänzlich heruntergekommener Bursche zu<br />

sein, der jedenfalls einer strengen <strong>und</strong> während langer Dauer auf ihn einwirkenden Strafe bedarf.» Die<br />

Kriminalkammer verurteilte Paul C. dementsprechend zu 18 Monaten Zuchthaus. 1083<br />

Fälle, bei denen die Schlussfolgerungen des Gutachtens, die Anträge der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Ver-<br />

teidigung sowie das Urteil konvergierten, verdeutlichen die Bereitschaft der Berner <strong>Strafjustiz</strong>, psychiatri-<br />

sche Deutungsangebote zu übernehmen. Psychiatrische Deutungsmuster erwiesen sich dabei nicht nur bei<br />

Juristens, sondern auch bei Laienrichtern als anschlussfähig. Dieser Wissenstransfer konnte allerdings<br />

durchaus einer systemspezifischen Aneignung unterliegen. So ist beispielsweise im Fall von Paul C. fraglich,<br />

ob die Kriminalkammer unter einer «verbrecherischen Anlage» dasselbe verstand wie die Psychiater.<br />

Dessen vergleichsweise hohe Strafe weist zumindest darauf hin, dass es sich in den Augen der Justiz dabei<br />

mehr um eine «Anlage» im Sinne einer moralischen Verrohung als um eine unveränderliche Anlage zum<br />

«geborenen Verbrecher» im psychiatrischen Sinne handelte.<br />

Konfliktfälle: Geringschätzung oder Aneignung psychiatrischer Deutungsangebote<br />

Die Geringschätzung psychiatrischer Gutachten durch die Justizbehörden gehörte auch um die Jahrhun-<br />

dertwende zum Topos psychiatrisch-juristischer Grenzdispute. So beklagte sich von Speyr 1909 vor dem<br />

Berner Hilfsverein für Geisteskranke über die Gewohnheit von Staatsanwälten, «unsere Gutachten anzufechten<br />

<strong>und</strong> den Geschworenen klar zu machen, dass der Angeklagte nicht krank <strong>und</strong> jedenfalls nicht gänzlich<br />

unzurechnungsfähig sei». Auch die Bereitschaft der Geschworenen, auf psychiatrische Deutungsangebote<br />

kriminellen Verhaltens einzugehen, schätzte der Direktor der Waldau gering ein: «Besonders schwer aber<br />

wird es dem Laien, an Geisteskrankheiten zu denken, wenn eine Handlung vorliegt, die Strafe verdient<br />

[...]. Die alten Vorstellungen, dass jedes Verbrechen bestraft, vergolten, gerächt werden müsse, wurzeln<br />

noch viel zu tief <strong>und</strong> die Anschauung der neuen Schule, dass der Missetäter, nicht in diesem Sinne be-<br />

straft, sondern einfach für die Gesellschaft unschädlich gemacht werden solle, ist noch lange nicht zur<br />

Geltung gekommen, obwohl die Sicherung der Gesellschaft bei dieser neuen Anschauung zweifellos bes-<br />

ser ist.» 1084 Ganz im Sinne der Strafrechtsreformer propagierte von Speyr eine Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens als effizientes Mittel zur Sicherung der Gesellschaft vor «abnormen» DelinquentInnen. Das<br />

Hochhalten des bürgerlichen Schuldstrafrechts, wie er es den Geschworenen unterstellte, erschien in sei-<br />

nen Augen wenig dazu angetan, den Sicherungsbedürfnissen der Gesellschaft Genüge zu tun.<br />

Entgegen der im Zuge dieser Untersuchung wiederholt hervorgehobene zunehmende Sensibilisierung der<br />

Justizbehörden gegenüber psychiatrischen Deutungsmustern kamen Konflikte, wie sie von Speyr in sei-<br />

nem Votum vor Augen hatte, im Berner Justizalltag durchaus vor. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Emi-<br />

le C., der 1904 zwei betagte Frauen seines Dorfes ohne jede ersichtliche Veranlassung umgebracht hatte.<br />

Trotz einiger Begründungsschwierigkeiten war das Gutachten der Irrenanstalt Bellelay zum Schluss ge-<br />

kommen, dass Emile C. unter Einfluss von Alkohol gehandelt habe <strong>und</strong> deshalb als vermindert zurech-<br />

nungsfähig anzusehen sei. Die Geschworenen erkannten dagegen auf volle Zurechnungsfähigkeit. In ihrer<br />

1083 StAB BB 15.4, Band 124, Verhandlung der Assisen gegen Paul C., 28. Mai 1918.<br />

1084 Speyr, 1909, 12, 19.<br />

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