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Psychiatrie und Strafjustiz

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die auf ihrem Gebiete begangenen Delikte nach eigenem Rechte <strong>und</strong> Empfinden, entsprechend der im<br />

Bewusstsein ihres Volkes niedergelegten Auffassung von Recht <strong>und</strong> Unrecht zu ahnden. Denn das ist klar,<br />

dass kein Gesetz derart der Spiegel der Volksseele, der Niederschlag seiner Empfindungen, Anschauungen<br />

<strong>und</strong> seiner Einstellung zu den verschiedenen Problemen des Lebens ist, wie gerade das Strafrecht.» 1352<br />

Dass mit der Rechtseinheit nicht allein die Souveränität, sondern auch die Identität der Kantone auf dem<br />

Spiel stehen sollte, war ein fester Bestandteil der Argumentation der Gegner der Rechtseinheit. 1353 Ganz<br />

im Sinne der historischen Rechtsschule des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde das Strafrecht als Institut konzipiert,<br />

das fest im «kollektiven Bewusstsein» der Bevölkerung wurzelte <strong>und</strong> deren Traditionen widerspiegelte.<br />

Diese Argumentation hatte indes eine doppelte Stossrichtung. Zum einen erlaubte sie den Vertretern der<br />

katholisch-konservativen Ratsminderheit, bestimmte materielle Differenzen argumentativ zu unterfüttern,<br />

so etwa im Zusammenhang mit den Bestimmungen über die Abtreibung oder dem neuen Sexualstrafrecht.<br />

Andererseits brachte sie eine Identitätskonstruktion zum Ausdruck, die von derjenigen der Befürworter<br />

deutlich abwich. Begrüssten diese das Strafgesetzbuch unter den Gesichtspunkten der nationalen Integra-<br />

tion <strong>und</strong> der kriminalpolitischen Zweckmässigkeit, so bedeutete für die Gegner das Recht zu Strafen ein<br />

überzeitliches Attribut kantonaler Souveränität, auf das die Kantone nicht leichtfertig verzichten durften.<br />

Die Kantone hatten vielmehr ihre bisherigen Strafgesetze den Anforderungen der Zeit anzupassen. 1354<br />

Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass sich die Gegner der Rechtseinheit gerne einer frühneuzeit-<br />

lichen Staats- <strong>und</strong> Justizsemantik bedienten: «Nous pensons que cette unification proposée comporte une<br />

grave atteinte à la souveraineté des cantons. On leur enlève ce glaive de la justice, le droit de punir.» 1355<br />

«Schwert der Justiz» oder pragmatisch-kriminalpolitisches Instrument?<br />

Wie bereits anlässlich der Parlamentsdebatte um die Rechtseinheit von 1896/97 überlagerten sich auch in<br />

der Zwischenkriegszeit staats- <strong>und</strong> kriminalpolitische Konfliktlinien. Wie in Kapitel 4 gezeigt worden ist,<br />

hatte die von Strafrechtsreformern konzipierte regulative Kriminalpolitik, die in der Strafe weniger ein<br />

Mittel der Vergeltung als eine Kombination aus Abschreckung, Besserung <strong>und</strong> Sicherung sah, bereits in<br />

den 1890er Jahren heftige Kontroversen ausgelöst. Nachdem sich die Positionen von Gegnern <strong>und</strong> Be-<br />

fürwortern einer teilweisen Medikalisierung <strong>und</strong> Pädagogisierung des Strafrechts in der Expertenkommis-<br />

sion von 1912 sukzessive angenähert hatten, flackerte in der Parlamentsdebatte der Konflikt zwischen den<br />

Verfechtern einer pragmatisch-regulativen Kriminalpolitik <strong>und</strong> den Anhängern des traditionellen Schuld-<br />

strafrechts nochmals auf. Eine breite Mehrheit aus bürgerlichen <strong>und</strong> sozialdemokratischen Parlamenta-<br />

riern begrüsste die Vorlage des B<strong>und</strong>esrats als sinnvollen Kompromiss. Der Thurgauer Freisinnige Oskar<br />

Ullmann (1862–1949) meinte im Nationalrat beispielsweise: «Zwei Weltanschauungen haben sich im neu-<br />

en Gesetz in schöner Form vereinigt: die alte kriminalistische Anschauung mit der Forderung: Strafe,<br />

Sühne, Vergeltung. Diese alte Anschauung streift ihre Härte ab zugunsten der menschlich schönen Forde-<br />

rung, die da heisst: Erziehung, Besserung, Heilung.» 1356 Der freisinnige Sprecher der Nationalratskommis-<br />

sion, Adolf Seiler (1875–1949), bezeichnete den Entwurf als «goldene Mitte» zwischen der «alten Schule,<br />

die von der Strafe als Vergeltung ausgeht» <strong>und</strong> der «modernen Richtung, welche die Strafe als Sühnemittel<br />

ausschaltet <strong>und</strong> nicht die Schwere der Tat, sondern den Charakter des Täters als Massstab für die Repres-<br />

sivmassnahme nimmt». 1357 Auch B<strong>und</strong>esrat Häberlin wollte vor dem Ständerat den Zweck der Besserung<br />

1352 Sten. Bull. SR, 1931, 89.<br />

1353 Vgl. Sten. Bull. NR, 1928, 29 f., 35, 84; Sten. Bull. SR, 1931, 102.<br />

1354 Vgl. Sten. Bull. NR, 1928, 41.<br />

1355 Sten. Bull. SR, 1931, 102 (nachträgliche Hervorhebung durch den Autor).<br />

1356 Sten. Bull. NR, 1928, 25.<br />

1357 Sten. Bull. NR, 1928, 3.<br />

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