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Psychiatrie und Strafjustiz

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Geisteskranke» künftig verwahrt <strong>und</strong> versorgt werden sollten. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang<br />

an Forels Projekt für ein Irrengesetzes, das spezielle Landasyle für die Verwahrung «abnormer Personen»<br />

vorsah. 1225<br />

Angesichts der praktischen Relevanz des Verwahrungsproblems erstaunt es, dass die ersten Vorentwürfe<br />

zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch kaum nähere Angaben über die Art der vorgesehenen Verwah-<br />

rungsanstalten für geistesgestörte Straftäter enthielten. In den entsprechenden Artikeln des Vorentwurfs<br />

von 1893 war lediglich von einer «Anstalt» die Rede. Stooss’ Erläuterungen bezeichneten allerdings expli-<br />

zit «Irrenanstalten» als Verwahrungsanstalten für «Unzurechnungsfähige <strong>und</strong> vermindert Zurechnungsfä-<br />

hige, welche die öffentliche Sicherheit gefährden». Der überarbeitete Vorentwurf von 1894 ersetzte dann<br />

die «Anstalt» von 1893 durch die Bezeichnung «Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt». In den Erläuterungen hiess es<br />

dazu: «Diese Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt wird meist eine Irrenanstalt sein, es kann aber auch eine Spezialanstalt<br />

z. B. für Epileptische, Taubstumme, Schwachsinnige u. dgl. sein.» 1226 Die Bezeichnung «Heil- <strong>und</strong> Pflege-<br />

anstalt» wurde von den verschiedenen Expertenkommissionen nicht in Frage gestellt. Sie fand über die<br />

parlamentarische Beratung schliesslich Eingang ins Strafgesetzbuch von 1942. Es ist bezeichnend für die<br />

frühe Strafrechtsdebatte, dass ob der einseitigen Fixierung auf strafrechtsdogmatische Differenzen Fragen<br />

des Massnahmenvollzugs eine untergeordnete Rolle spielten. Dieses Desinteresse an Vollzugsfragen<br />

kommt ebenfalls in der Antwort des Justizdepartements auf einen Vorstoss der Schweizer Psychiater zum<br />

Ausdruck. 1894 forderte die Jahresversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte vom B<strong>und</strong> die Erstel-<br />

lung einer Statistik über die mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommenen Geisteskranken. In einem Refe-<br />

rat vor der Versammlung hatte von Speyr die Ziele einer solchen Erhebung mittels Zählkarten umschrie-<br />

ben: «Wir wollen uns <strong>und</strong> dem Gesetzgeber mit dieser Statistik klar machen, wie viel Geisteskranke sich<br />

gegen das Strafgesetz verfehlen <strong>und</strong>, freigesprochen, vom Staate zu versorgen sind. Wir arbeiten damit<br />

auch für die Frage vor, in welcher Weise diese Freigesprochenen am besten versorgt werden, ob vielleicht<br />

ein besonderes Asyl für sie am Platze sei.» 1227 Gestützt auf ein Gutachten Stooss’ erschien dem Justizde-<br />

partement die «Sache» als «noch nicht so reif». Die B<strong>und</strong>esbehörden lehnten deshalb das Gesuch der Ir-<br />

renärzte ab. 1228<br />

Mit der Ablehnung der B<strong>und</strong>esbehörden waren die Wissensbedürfnisse der Psychiater über die Zahl der<br />

potentiell zu verwahrenden«verbrecherischen Geisteskranken» keinesfalls obsolet geworden. Eine neue<br />

Initiative zur Diskussion des Verwahrungsproblems ging 1904 vom Direktor der Irrenanstalt Königsfel-<br />

den, Leopold Frölich (1860–1933) aus. Ausgangspunkt seines Vorstosses bildeten die «schwierigen Ver-<br />

hältnisse» in Königsfelden, die Frölich unter Bezugnahme auf die Situation in Deutschland wie folgt be-<br />

schrieb: «Zahlreiche kriminelle Kranke bei überfüllter Anstalt, darunter viele lästige <strong>und</strong> gefährliche Ele-<br />

mente, Erschweren der freien, zwanglosen Behandlung, worunter auch andere Kranke leiden müssen,<br />

Unmöglichkeit, viele Kriminelle passend zu beschäftigen, viele Intrigen, öfters Entweichungen.» 1229 Zu-<br />

sammen mit seinem Zürcher Kollegen, Ludwig von Muralt (1869–1917) veranstaltete Frölich eine Umfrage<br />

bei den Schweizer Irren- <strong>und</strong> Strafanstalten über die Zahl der für eine spezielle Anstalt in Frage kom-<br />

menden geistesgestörten Straftäter. Bei der Präsentation der Umfragergebnisse auf der Versammlung der<br />

1225 Vgl. Forel, 1893.<br />

1226 VE 1893, 24; VE 1894, 127. Diese Passagen von Stooss’ Erläuterungen sollten von einzelnen Psychiatern in den 1940er<br />

Jahren bewusst übergangen werden, als es darum ging die Identifikation der psychiatrischen Anstalten mit dem gesetzlichen<br />

Begriff der «Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt» in Frage zu stellen; vgl. Wyrsch, 1945, 11, 16.<br />

1227 BAR E 87 (-), Band 33, Dossier 252, Über eine Zählung der geistesgestörten Delinquenten, Referat von Prof. v. Speyr, 15.<br />

Mai 1894. Den Hinweis auf dieses Dossier verdanke ich Ruth Stalder.<br />

1228 BAR E 87 (-), Band 33, Dossier 252, Schreiben des Eidgenössischen Justizdepartements an das Eidgenössische Departement<br />

des Innern, 12. Juni 1895.<br />

1229 ASGP, Protokoll des Vereins schweizerischer Irrenärzte, 1904, 4.<br />

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