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Psychiatrie und Strafjustiz

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dem Umstand Rechnung, dass in der Schweiz die verminderte Zurechnungsfähigkeit bereits anerkannt<br />

war. 1310 Wie anhand zweier Kontroversen gezeigt werden kann, waren sich allerdings auch Schweizer Psy-<br />

chiater wie Hans W. Maier bewusst, dass sich eine Entlastung der Irrenanstalten von Verwahrungsaufga-<br />

ben durch eine gezielte Steuerung der Begutachtungspraxis erreichen liess. Solche Demedikalisierungsten-<br />

denzen stiessen indes bei einzelnen Fachkollegen auf harsche Kritik, die durch die Ausrichtung an prakti-<br />

schen Bedürfnissen die Wissenschaftlichkeit der Disziplin in Frage gestellt sahen.<br />

Wissenschaft oder Praxis?: Die Gehry-Bleuler-Kontroverse<br />

Der von Wilmanns prägnant artikulierte Auffassungswandel führte bereits zu Beginn des Ersten Welt-<br />

kriegs innerhalb der Schweizer Psychiater zu einer Kontroverse, bei der es im Wesentlichen um die Frage<br />

ging, inwieweit psychiatrische Sachverständige bei Begutachtungen kriminal- <strong>und</strong>/oder standespolitische<br />

Anliegen berücksichtigen durften. Zur Debatte stand damit das Verhältnis von Begutachtungspraxis <strong>und</strong><br />

Kriminalpolitik, deren klare Trennung Bleuler 1896 noch postuliert hatte. 1311 Eng damit verknüpft war<br />

eine weitere Diskussion über die Frage, in welcher Form psychiatrische Sachverständige ihre Schlussfolge-<br />

rungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit den Justizbehörden vorzulegen hatten. Sollten sie sich<br />

explizit über die Frage der Zurechnungsfähigkeit äussern oder allein Aussagen über medizinische Bef<strong>und</strong>e<br />

machen? Anlass zu Diskussion gab in diesem Zusammenhang vor allem die von Maier 1913 skizzierte<br />

Option, mittels expliziter Aussagen über die Zurechnungsfähigkeit von ExplorandInnen die Anschlussfä-<br />

higkeit psychiatrischer Anliegen bei den Justizbehörden sicherzustellen. In beiden Debatten sollten die<br />

Schweizer Psychiater in der Zwischenkriegszeit ihre früheren Auffassungen modifizieren.<br />

1913 veröffentlichte Karl Gehry (1881–1962), Sek<strong>und</strong>ärarzt an der Irrenanstalt Rheinau, unter dem Titel<br />

«Wesen <strong>und</strong> Behandlung der moralisch Schwachsinnigen» einen längeren Beitrag im Correspondenzblatt für<br />

Schweizer Ärzte. Darin griff er ein Thema auf, das in der Zürcher <strong>Psychiatrie</strong> seit den Arbeiten Bleulers <strong>und</strong><br />

Maiers Konjunktur hatte. Gehry bemühte sich darum, den Krankheitsbegriff anhand zweier Falldarstel-<br />

lungen zu präzisieren, wobei er den «moralischen Schwachsinn» als «völliger oder teilweiser Mangel an<br />

moralischen Gefühlen bei genügender Intelligenz, verb<strong>und</strong>en mit einem Trieb zum Verbrechen» um-<br />

schrieb. 1312 Im Anschluss an diese Definition kam er auf die Frage zu sprechen, ob solche «Abnormitäten»<br />

den eigentlichen Geisteskrankheiten zuzurechnen seien. Diese Frage sei umso bedeutungsvoller, als damit<br />

die forensische Beurteilung eines grossen Teils der «Gewohnheitsverbrecher» verb<strong>und</strong>en sei. Beurteile<br />

man die «moralisch Schwachsinnigen» als vermindert zurechnungsfähig, so werde damit erreicht, dass die<br />

Betreffenden «möglichst rasch wieder auf die Gesellschaft losgelassen würden». Würden die «moralisch<br />

Schwachsinnigen» hingegen, wie es im Kanton Zürich gang <strong>und</strong> gäbe sei, für gänzlich unzurechnungsfähig<br />

bef<strong>und</strong>en, müssten sie in den Irrenanstalten verwahrt werden. Dies sei wiederum nur unter der Bedingung<br />

möglich, dass die Irrenanstalten über entsprechend eingerichtete Spezialabteilungen <strong>und</strong> genügend Ar-<br />

beitsgelegenheiten verfügten. Gehry erachtete jedoch diese Bedingungen als nicht gegeben <strong>und</strong> kam zum<br />

Schluss: «Nach dem Vorhergehenden bleibt uns nur die Möglichkeit, die moralisch Schwachsinnigen als<br />

zurechnungsfähig dem Richter zu überlassen.» Sie seien folglich in der Strafanstalt zu internieren. Gehry<br />

berief sich dabei auf das «Prinzip der Arbeitsteilung», wenn er postulierte, «dem Richter [zu] überlassen,<br />

was ihm gehört, <strong>und</strong> dem Arzt [zu] geben, was dem Arzte ist». 1313<br />

1310 Manser, 1932. Eine seltene Ausnahme stellt diesbezüglich Strasser, 1921 dar.<br />

1311 Bleuler, 1896, 80.<br />

1312 Gehry, 1913, 1388. Zu der von Gehry ausgelösten Kontroverse: Schoop-Russbült, 1988, 94-97.<br />

1313 Gehry., 1913, 1391.<br />

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