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Psychiatrie und Strafjustiz

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Tabelle 5: Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nach Diagnosegruppen (Angaben in Prozent)<br />

Diagnosegruppen UZ VZ Z<br />

1. Angeborene Störungen 80,9 19,1 - 100 (47)<br />

2. Konstitutionelle Störungen 31,3 59,4 9.3 100 (64)<br />

3. Einfache Störungen 92,9 7,1 - 100 (56)<br />

Über 90% der ExplorandInnen mit «einfachen Störungen» <strong>und</strong> gut 80% der ExplorandInnen mit «ange-<br />

borenen Störungen» wurden als unzurechnungsfähig (UZ) beurteilt. Auf Zurechnungsfähigkeit (Z) wurde<br />

bei beiden Gruppen in keinem einzigen Fall erkannt. Bei der Gruppe der «konstitutionellen Störungen»<br />

hingegen betrug der Anteil der Unzurechnungsfähigen lediglich ein knappes Drittel. 60% wurden dagegen<br />

als vermindert (VZ), 10% als vollständig zurechnungsfähig beurteilt. Diagnosen, die einen hohen psychiat-<br />

rischen Krankheitswert aufwiesen oder primär die intellektuellen Fähigkeiten betrafen, hatten in den meis-<br />

ten Fällen das psychiatrische Verdikt der Unzurechnungsfähigkeit zur Folge. Bei Diagnosen aus dem<br />

Übergangsbereich zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit fiel die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit<br />

dagegen differenzierter aus. Bei mehr als der Hälfte dieser Fälle wurde den ExplorandInnen eine vermin-<br />

derte Zurechnungsfähigkeit zugestanden. Deutlich zeigt sich hier die Bedeutung der verminderten Zu-<br />

rechnungsfähigkeit als juristisches Korrelat zur medizinisch-psychiatrischen Konzeptualisierung eines<br />

Übergangsbereichs zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit. Das Institut der verminderten Zurechnungsfä-<br />

higkeit erlaubte somit eine differenzierte Erfassung von DelinquentInnen, bei denen eine Engführung von<br />

juristischem Schuld- <strong>und</strong> medizinischem Krankheitsbegriff nicht möglich war. Es trug damit wesentlich zu<br />

einer Entschärfung potenzieller Konflikte zwischen den beiden Bezugssystemen bei.<br />

Zur Tradition juristisch-psychiatrischer «Grenzdispute» gehörten Auseinandersetzungen über die divergie-<br />

rende Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit durch Vertreter beider Disziplinen. In Kapitel 4 ist dargelegt<br />

worden, dass sich diese Konflikttradition auch um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende durchaus noch reaktiveren liess.<br />

So thematisierten auch die Berner Psychiater in ihren Referaten vor dem kantonalen Hilfsverein für Geistes-<br />

kranke ausgiebig die Problematik abweichender Urteile zwischen Sachverständigen <strong>und</strong> Richtern. 757 Aller-<br />

dings ist nicht zu übersehen, dass diese «Grenzdispute» im Zuge der Strafrechtsdebatte zunehmend von<br />

einem interdisziplinären Verständigungsdiskurs abgelöst wurde, der das Leitbild einer eingespielten ar-<br />

beitsteiligen Kriminalitätsbewältigung ins Zentrum stellte. Anhand der Einträge in den Jahresberichten der<br />

Berner Irrenanstalten, die in vielen Fällen Angaben zur Einschätzung eines Falles durch die psychiatri-<br />

schen Sachverständigen <strong>und</strong> die Justizbehörden enthalten, lässt sich die Relevanz solcher Diskrepanzen im<br />

Justizalltag einschätzen. Das festzustellende Ausmass von Konsens <strong>und</strong> Dissens zwischen Experten <strong>und</strong><br />

Justizbehörden bietet einen wichtigen Indikator für den Grad der Kooperation zwischen <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Strafjustiz</strong>. Allerdings sind auch hier Vorbehalte bezüglich der Zuverlässigkeit des Datenmaterials anzu-<br />

bringen. Fehlen in den Jahresberichten Angaben über den Ausgang des Prozesses, respektive die Einstel-<br />

lung eines Verfahrens, kann daraus nicht automatisch auf eine Übernahme der Schlussfolgerungen des<br />

Gutachtens durch die Justizbehörden geschlossen werden. Allerdings hatten die Psychiater auch kein Interesse,<br />

Diskrepanzen bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit in den Jahresberichten zu unterschla-<br />

gen. Auf jeden Fall sind die im Folgenden eruierten Zahlenwerte als Richtwerte zu betrachten, die mit<br />

vergleichbarem Datenmaterial verglichen werden müssen.<br />

Bei 16 der 230 Gutachteneinträge, die Angaben zur Zurechnungsfähigkeit enthalten, finden sich Hinweise<br />

auf Differenzen bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit durch die psychiatrischen Sachverständigen<br />

757 Speyr, 1909, 8; Hiss, 1910; Glaser, 1911.<br />

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