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Psychiatrie und Strafjustiz

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Massnahme. 1434 Analog sollten Massnahmen gegen «liederliche Personen» <strong>und</strong> «Gewohnheitstrinker» erst<br />

nach der Strafe vollstreckt werden. Das Waadtländer Gesetz ging im Bereich des Massnahmenrechts inso-<br />

fern weiter, als es – wie der eidgenössische Entwurf <strong>und</strong> die Strafrechtsnovellen verschiedener Deut-<br />

schweizer Kantone – sichernde Massnahmen gegen «Gewohnheitsverbrecher» vorsah. 1435<br />

Die Strafgesetze von Freiburg <strong>und</strong> der Waadt waren Ausdruck unterschiedlicher kriminalpolitischer Rich-<br />

tungen. Hinter beiden Gesetzen standen die kriminalpolitischen Anschauungen der jeweiligen kantonalen<br />

Mehrheitspartei, das heisst im Fall Freiburgs der Katholisch-Konservativen <strong>und</strong> im Fall der Waadt der<br />

Radikalen <strong>und</strong> Liberalen. 1436 Das Waadtländer Projekt teilte im Wesentlichen die pragmatisch-regulative<br />

Kriminalpolitik des schweizerischen Strafgesetzbuchs, während Freiburg dezidiert am traditionellen<br />

Schuldstrafrecht festhielt. Die Waadt stand einer teilweisen Medikalisierung des Strafrechts offen gegen-<br />

über. Die Freiburger Ratsmehrheit beharrte dagegen auf dem unbedingten Primat der Vergeltungsstrafe.<br />

Vom kriminalpolitischen Standpunkt aus wiesen die beiden Entwürfe somit beträchtliche Differenzen auf.<br />

Wenn die Gegner des schweizerischen Strafgesetzbuchs die beiden kantonalen Revisionen in einem<br />

Atemzug nennen konnten, so nur deshalb, weil solche Differenzen innerhalb der Oppositionsbewegung<br />

gegen die Rechtseinheit ausgeblendet wurden. Gerade für die Konservativen hätte das Waadtländer Strafgesetzbuch<br />

eigentlich ein rotes Tuch darstellen müssen, erlaubte es doch erstmals in der Schweiz die euge-<br />

nisch indizierte Abtreibung. Dies umso mehr, als katholische Intellektuelle sonst nicht zögerten, das<br />

schweizerische Strafgesetzbuch als ein Werk darzustellen, das «gegen Naturgesetz <strong>und</strong> christliche Sitte»<br />

verstosse. 1437 Die Möglichkeit, diese kriminalpolitischen Differenzen zu unterlaufen, war eine Konsequenz<br />

der Art <strong>und</strong> Weise, wie die Politisierung der Strafrechtsreform in der Parlamentsdebatte <strong>und</strong> vor allem im<br />

Abstimmungskampf vonstatten ging. Den Gegnern des Strafgesetzbuchs gelang es dabei, das neue Straf-<br />

recht primär als staatspolitisches <strong>und</strong> erst in zweiter Linie als kriminalpolitisches Problem auf die politi-<br />

sche Agenda zu setzen. Erst dadurch wurden eine solch heterogene Allianz wie die zwischen Innerschwei-<br />

zer Konservativen <strong>und</strong> Waadtländer Radikalen möglich.<br />

Ein Sieg der Befürworter<br />

Die Befürworter wie die Gegner des Strafgesetzbuchs gingen den Abstimmungskampf mit den klassischen<br />

Mitteln der politischen Mobilisierung an. Die Parteitage der Freisinnigen, der Bauern-, Gewerbe <strong>und</strong> Bürgerpartei<br />

sowie der Sozialdemokraten stimmten dem Strafgesetzbuch deutlich zu. 1438 In mehreren Kanto-<br />

nen kam es zur Bildung kantonaler Abstimmungskomitees, auf nationaler Ebene wirkte ein überparteili-<br />

ches Aktionskomitee für ein einheitliches Strafrecht. Diese Komitees versuchten, den Abstimmungskampf mit-<br />

tels der Organisation von Veranstaltungen <strong>und</strong> der Verbreitung von Broschüren <strong>und</strong> gedruckten Reden in<br />

ihrem Sinn zu beeinflussen. So organisierten die Befürworter in Zürich <strong>und</strong> Bern Volksversammlungen,<br />

an denen B<strong>und</strong>espräsident Johannes Baumann sprach. 1439 Ebenfalls auf der Seite der Befürworter enga-<br />

gierten sich prominente Juristen <strong>und</strong> Psychiater. Ernst Hafter warb beispielsweise an einer überparteili-<br />

chen Veranstaltung in Winterthur für das Strafgesetzbuch. 1440 Die Schweizerische Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong><br />

diskutierte die Vorlage 1938 an ihrer Jahresversammlung. Oscar Forel (1891–1982) verglich dabei in sei-<br />

nem Referat das eidgenössische <strong>und</strong> das Waadtländer Strafgesetz. Der Vergleich fiel eindeutig zugunsten<br />

1434 Bulletin des Séances du Grand Conseil du Canton de Fribourg, 1924, 3; StGB VD 1931, Artikel 11.<br />

1435 StGB VD 1931, Artikel 56.<br />

1436 Bezeichnenderweise stimmten etwa die Freiburger Liberalen dem schweizerischen Strafgesetzbuch zu; vgl. Schild, 1971, 145.<br />

1437 So etwa der Theologe <strong>und</strong> katholische Sozialreformer Josef Beck in einer in den Freiburger Nachrichten erschienenen Artikelserie;<br />

Beck, 1938, 12. Zu Beck: Altermatt, 1999, 162-171.<br />

1438 Berner Tagblatt, 25. Mai 1938; National Zeitung, 30. Mai 1938.<br />

1439 NZZ, 12. Juni 1938; Der B<strong>und</strong>, 22. Juni 1938.<br />

1440 NZZ, 13. Juni 1938.<br />

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