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Psychiatrie und Strafjustiz

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wurde». 869 Diese Einschätzung revidierte der Berichterstatter indes, als Binggeli während der Gerichtsver-<br />

handlung einen «Tobsuchtsanfall» erlitt, so dass sich das Gericht entschloss, den Prozess abzubrechen.<br />

Auf Anraten der anwesenden Sachverständigen kam die Kriminalkammer überein, Binggeli zunächst «be-<br />

hufs Prüfung seines Geisteszustands» nach Münsingen zurückzuversetzen. 870 In der Öffentlichkeit wurde<br />

Binggelis «Tobsuchtsanfall» mehrheitlich als eine Finte betrachtet. So meinte Der B<strong>und</strong>: «Im Allgemeinen<br />

lautet das Urteil über ihn [Binggeli] ungünstig. Die meisten verurteilen ihn sehr scharf. Wenn es einer<br />

wagt, von Geistesgestörtheit zu sprechen, so kann er sich auf heftigen Widerspruch gefasst machen.» 871<br />

Dieser Ansicht widersprach Binggelis Verteidiger. In einem Schreiben an den Präsidenten der Kriminalkammer<br />

verlangte er die Anordnung eines zweiten Gutachtens <strong>und</strong> machte die Mangelhaftigkeit der sei-<br />

nerzeit den Experten vorgelegten Fragestellung geltend: «Bekanntlich hat es sich im Verlaufe der Ver-<br />

handlungen [...] ergeben, dass in dem psychiatrischen Gutachten die Frage des geistigen Zustands des<br />

Binggeli nicht in vollständiger Weise behandelt worden ist, weil die Herren Experten glaubten, sich in den<br />

vom Herrn Untersuchungsrichter vorgegebenen Grenzen halten zu müssen.» In der Tat hatte der Unter-<br />

suchungsrichter von Schwarzenburg den Experten lediglich die Frage nach der Strafeinsicht, nicht aber<br />

nach dem zweiten gesetzlichen Kriterium der Zurechnungsfähigkeit, nach der Willensfreiheit, vorgelegt. 872<br />

Der Verteidiger betonte, es sei notwendig, «dass die Herren Experten ihr Gutachten über den geistigen<br />

Zustand des Binggeli unbeschränkt abgeben» <strong>und</strong> forderte ein ergänzendes Gutachten, dass die Frage<br />

nach dem Vorhandensein der Willensfreiheit <strong>und</strong> die Prüfung einer allfälligen Verminderung der Zurech-<br />

nungsfähigkeit ins Zentrum stellen sollte. 873 Mit dem Vorstoss gab der Verteidiger zu verstehen, dass er<br />

nicht bereit war, seine Strategie, die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten anzuzweifeln, vorschnell aus<br />

den Händen zu geben. Dadurch dass der Gerichtspräsident den Antrag der Verteidigung schliesslich gut-<br />

hiess <strong>und</strong> die Experten mit einer Ergänzung ihres Gutachtens beauftragte, ging der psychiatrische Sinnge-<br />

bungsprozess gleichsam in eine zweite R<strong>und</strong>e.<br />

Das zweite Gutachten<br />

Das zweite Gutachten stellte die Frage der «Willensfreiheit» ins Zentrum. Ganz im Sinne der psychiatri-<br />

schen Skepsis gegenüber der Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses wollten sich die Experten<br />

auf die Entscheidung beschränken, ob bei Binggeli «die Willensbildung infolge abnormer geistiger Ent-<br />

wicklung gestört war». 874 Als Ausgangspunkt für diesen Entscheid diente den Psychiatern der bereits im<br />

ersten Gutachten vorgebrachte Bef<strong>und</strong>, dass Binggeli ein «konstitutionell abnorm beanlagter <strong>und</strong> entwi-<br />

ckelter Mensch» sei. Als solcher verfüge er zwar über die Fähigkeit zur Einsicht in die Strafbarkeit seiner<br />

Handlung, «allein der freie Wille, dieser Einsicht gemäss zu handeln, diese zweite wesentliche Erfordernis<br />

der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit, fehlte ihm zur Zeit der Tat». Noch ausgeprägter als im ersten<br />

Gutachten deuteten die Psychiater die Tat als Ausfluss eines «abnormen Charakters»: «Weil die Tat sich<br />

nur aus einer abnormen Charakteranlage <strong>und</strong> -entwicklung des Angeklagten, nicht aus tatsächlichen Verhältnissen<br />

verstehen lässt, kann sie nicht als der Ausfluss eines freien Willens anerkannt werden; der Wille,<br />

aus dem sie erfloss, war ein durch die Krankhaftigkeit von Binggelis Charakter unfreier.» 875 In den Augen<br />

der Sachverständigen liess sich eine Handlung, deren Motive von Aussenstehenden nicht nachvollzogen<br />

869 Der B<strong>und</strong>, 23. Dezember 1900.<br />

870 StAB BB 15.4, Band 89, Verhandlung der Assisen, 20./21. Dezember 1900.<br />

871 Der B<strong>und</strong>, 26./27. Dezember 1900.<br />

872 Vgl. Kp. 5.1.<br />

873 StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Verteidiger Lenz an den Präsidenten der Kriminalkammer, 29. Dezember 1900.<br />

874 Glaser, 1901, 363. Glaser forderte im Anschluss an das in der ZStrR reproduzierte Gutachten, den Begriff der «Willensfreiheit»<br />

aufzugeben <strong>und</strong> die Definition der Zurechnungsfähigkeit rein medizinisch zu fassen; vgl. Kp. 5.1.<br />

875 Glaser, 1901, 364.<br />

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