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Psychiatrie und Strafjustiz

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keit wurde dabei definitiv von theologischen Implikationen losgelöst <strong>und</strong> mit dem Legalitätsprinzip ver-<br />

schmolzen. 141 Wie das Zürcher Strafgesetzbuch von 1835 beispielhaft zeigt, ging die Durchsetzung des<br />

bürgerlichen Strafrechts zudem mit einer Dominanz absoluter Straftheorien einher. Ausgangspunkt dieser<br />

Entwicklung bildete der bereits von Kant vertretene Gr<strong>und</strong>satz, dass der Staat in erster Linie eine schuld-<br />

haft begangene Tat <strong>und</strong> nicht die Gesinnung der StraftäterInnen zu bestrafen habe. Die Strafe war damit<br />

in erster Linie Ausgleich für das begangene Verbrechen. 142 StraftäterInnen interessierten die Justiz nur in<br />

Bezug auf die Bestimmung ihrer strafrechtlichen Schuld. Gleichzeitig markierte das Schuldprinzip aber die<br />

Grenze des bürgerlichen Strafrechts; denn wer das Gesetz nicht schuldhaft übertreten hatte, konnte auch<br />

nicht bestraft werden. Schuldausschliessende Gründe <strong>und</strong> die Frage nach den Voraussetzungen der straf-<br />

rechtlichen Verantwortlichkeit stellten das bürgerliche Strafrecht deshalb vor besondere Herausforderun-<br />

gen.<br />

Das bürgerliche Strafrecht <strong>und</strong> die Frage der Zurechnungsfähigkeit<br />

Die beschriebene Neuausrichtung des Strafrechts ging ebenfalls mit einer Neudefinition der strafrechtli-<br />

chen Verantwortlichkeit einher. Nur in engen Grenzen hatte das frühneuzeitliche Strafrecht Zustände<br />

anerkannt, welche die Verantwortlichkeit von StraftäterInnen verminderten. Das Vorliegen einer Geistes-<br />

krankheit war dabei lediglich ein Milderungsgr<strong>und</strong> unter anderen. So sah die für den deutschen Sprach-<br />

raum bis weit ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert massgebende Peinliche Gerichtsordnung von 1532, die so genannte<br />

Constitutio Criminalis Carolina, die Milderung oder Aussetzung der Strafe eines Täters vor, «der jugent oder<br />

anderer gebrechlicheyt halben, wissentlich seiner synn nit hett». 143 Mit dem letzten Zusatz gemeint waren<br />

in erster Linie Geistesstörungen, die von offensichtlichen Zeichen von Wahn, Raserei oder Blödsinnigkeit<br />

begleitet waren. Solche DelinquentInnen wurden in der Gerichtspraxis allerdings kaum nach einheitlichen<br />

Prinzipien behandelt. Im Alten Bern verschonten Rat <strong>und</strong> Burger beispielsweise 1494 einen wegen Ver-<br />

leumdung angeklagten Mann vor der Todesstrafe, weil dieser ein «armer touber Mensch [sei], der us be-<br />

roubung siner vernunft die red getan hat», empfohlen aber gleichzeitig dessen Versorgung. Dagegen<br />

sprach der Rat 1598 die Todesstrafe über einen Totschläger aus, obwohl er dessen Tat «seiner Hirnsucht<br />

halb» für teilweise entschuldbar hielt. 144 Im Einzelfall konnten StraftäterInnen, bei denen die Gerichte<br />

Geistesstörungen feststellten, durchaus mit Gnade vor Recht, respektive mit einer Milderung der Strafe<br />

oder einer Verschonung vor der Folter rechnen. 145 Gleichzeitig zögerten die Obrigkeiten aber nicht, sol-<br />

che DelinquentInnen in «Gewahrsam» zu nehmen <strong>und</strong> sie in Spitälern, Arbeits- oder Tollhäusern zu ver-<br />

sorgen. Die strafrechtliche Milde gegenüber geistesgestörten StraftäterInnen war nicht zuletzt von der<br />

bereits in der Antike gängigen Auffassung geprägt, dass die Geisteskrankheit selbst eine ausreichende<br />

Strafe sei. So hiess es bezeichnenderweise in einem Kommentar zur französischen Ordonnance criminelle von<br />

1670: «Or celui qui est furieux ou insensé, n’a aucune volonté, et ne sait ce qu’il fait; ainsi il ne doit pas être<br />

puni, et il l’est assez par sa folie.» 146 Verstärkt wurde diese Tradition durch die wachsende Akzeptanz medizinischer<br />

Deutungsmuster kriminellen Verhaltens seit Ende des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts. Zunächst verdrängte<br />

die antike Säftelehre die kirchliche Dämonologie des Verbrechens. «Hexerei» <strong>und</strong> «Schadenzauber» beka-<br />

men damit ein medizinisches Gesicht, das die Folterung <strong>und</strong> Bestrafung der betroffenen Frauen <strong>und</strong><br />

141 Ludi, 1999, 500-522.<br />

142 Kaenel, 1981, 58f.<br />

143 Artikel 179 der Peinlichen Gerichtsordnung von 1532, zitiert: Buschmann, 1998, 164; Gschwend, 1996, 125-130.<br />

144 Rennefahrt, 1933, 60; Morgenthaler, 1915, 73.<br />

145 Vgl. die Untersuchung zur Gerichtspraxis zwischen dem 15. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert in Rapperswil (SG) in: Gschwend, 1996, 197-<br />

199; Martschukat, 2000, 23f.; Dülmen, 1985, 36, 44.<br />

146 Daniel Jousse, Nouveau commentaire sur l'Ordonnance Criminelle du mois d'Aout 1670, Paris 1777, vol. 2, 465, zitiert: Barras, 1990,<br />

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