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Psychiatrie und Strafjustiz

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echertypologien. 1914 meinte etwa der Berliner Psychiater Karl Birnbaum (1878–1958): «Kaum ein<br />

Sensationsprozess vergeht, in dem Psychopathen nicht eine Rolle spielen, kaum ein grösseres Strafverfah-<br />

ren [...], ohne dass nicht einzelne der Angeschuldigten als psychisch minderwertig in Betracht kommen.» 288<br />

Über die Justizpraxis hinaus hatte die Durchsetzung des Psychopathiekonzepts Auswirkungen auf die<br />

Bewältigung abweichenden <strong>und</strong> kriminellen Verhaltens durch die bürgerliche Gesellschaft der Jahrhun-<br />

dertwende.<br />

Die historische Bürgertumsforschung ist sich einig, dass «Bürgerlichkeit» im Sinn eines Lebensstils nicht<br />

allein auf materiellem Besitz <strong>und</strong>/oder Bildung beruht, sondern ebenso auf der Verinnerlichung klassen-<br />

<strong>und</strong> geschlechtsspezifischer Verhaltensnormen <strong>und</strong> Rollenerwartungen. Ein solches set von Werten, Nor-<br />

men <strong>und</strong> Erwartungen sollte dem bürgerlichen Individuum erlauben, sich auf seinem Lebensweg «sinn-<br />

voll» zu orientieren, ohne dabei mit den Interessen seiner Mitmenschen <strong>und</strong> der Gesellschaft in Konflikt<br />

zu geraten. Im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde dieser bürgerliche Wertekanon zusehends mit einem<br />

hegemonialen Anspruch versehen, der sich nicht mehr allein an BürgerInnen, sondern auch an Angehöri-<br />

ge unterbügerlicher Schichten richtete. 289 Im Zusammenhang mit der Entstehung einer genuin bürgerlichen<br />

Willenssemantik ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sich bereits die aufgeklärten BürgerIn-<br />

nen im Umfeld des Magazins für Erfahrungsseelenk<strong>und</strong>e bewusst waren, dass ein von inneren <strong>und</strong> äusseren<br />

Zwängen weitgehend freier Wille Voraussetzung für eine erfolgreiche Orientierung an einem «bürgerli-<br />

chen Wertehimmel» (Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann) war. Für die Entstehung des foren-<br />

sisch-psychiatrischen Praxisfelds in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts war denn auch die Frage konsti-<br />

tutiv, welche Abweichungen von bürgerlichen Rollenerwartungen allenfalls auf «unfreie Zustände» zu-<br />

rückgeführt werden konnten. Mit dem Konzept der Spezialmanien formulierte die <strong>Psychiatrie</strong> um 1820<br />

erste Antworten auf das Problem, wie die Grenzen der «Willensfreiheit» <strong>und</strong> der strafrechtlichen Verant-<br />

wortlichkeit zu ziehen waren. Die Degenerationstheorie <strong>und</strong> das Psychopathiekonzept akzentuierten diese<br />

Problemlösung insofern, als sie erlaubten, abweichendes <strong>und</strong> kriminelles Verhalten auf eine unveränderli-<br />

che «psychopathische» Persönlichkeitsstruktur zurückzuführen. Die Psychiater der Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

sprachen schliesslich «psychopathischen Persönlichkeiten» aufgr<strong>und</strong> einer «minderwertigen Konstitution»<br />

die Fähigkeit ab, in den «Stürmen des Lebens» (Gustav Aschaffenburg) selbständig <strong>und</strong> zuverlässig navi-<br />

gieren zu können. Krafft-Ebing subsumierte etwa unter den Folgen einer «psychischen Entartung» in<br />

erster Linie die Unfähigkeit, den Idealen des selbständigen, pflicht- <strong>und</strong> verantwortungsbewussten bürger-<br />

lichen Mannes nachzukommen: «Die psychischen Folgen [der Entartung] sind Unfähigkeit der Erreichung<br />

<strong>und</strong> Behauptung einer sozialen Stellung, Unfähigkeit zu einem energievollen, zielbewussten Denken <strong>und</strong><br />

Streben, zur Verwertung der Mittel (Geld) zur Erreichung höherer Lebensziele, Unfähigkeit zur sittlichen<br />

Selbstführung [...]». 290 Letztlich wurde damit die subjektive Fähigkeit zu gesellschaftlicher Konformität<br />

zum Kriterium der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.<br />

Parallel zu dieser Pathologisierung sozialer Devianz verschloss sich die <strong>Psychiatrie</strong> den Weg zu einer the-<br />

rapeutischen oder pädagogischen (Re-)Integration der betroffenen Individuen. «Psychopathische Persön-<br />

lichkeiten» wurden aufgr<strong>und</strong> ihrer Erbanlagen als prinzipiell unveränderlich angesehen. Psychiatrische<br />

Kriminalpolitiker forderten denn auch anstelle reintegrativer Bemühungen, dass die Gesellschaft vor sol-<br />

chen «gefährlichen Individuen» durch ein System sichernder Massnahmen geschützt werde. Therapeuti-<br />

sche Perspektiven, wie sie nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende beispielsweise von der psychoanalytischen Bewe-<br />

gung aufgezeigt wurden, spielten in der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> bis zur Infragestellung des Psychopathie-<br />

288 Birnbaum, 1914, 22.<br />

289 Vgl. Hettling/Hoffmann, 1997.<br />

290 Krafft-Ebing, 1892, 277 (nachträgliche Hervorhebungen durch den Verfasser).<br />

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