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Psychiatrie und Strafjustiz

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schung. Eine solche kausale Verknüpfung von Intelligenzmangel <strong>und</strong> mangelhafter Affektkontrolle er-<br />

laubte den Sachverständigen, die Brandstiftung von Christian B. in einen medizinisch-psychiatrischen<br />

Sinnzusammenhang zu stellen: «Inadäquate Reaktionen, bei denen der auslösende geringste Moment (der<br />

Verdacht, bestohlen worden zu sein) <strong>und</strong> der Grad der Affekterregung, Hass <strong>und</strong> Rachegefühl, die B. zum<br />

Brandstifter werden liessen, durch ihr Missverhältnis zu einander auffallen, finden sich sehr oft bei<br />

Schwachsinnigen, die denn auch ein grosses Kontingent der Brandstifter bilden.» 954 Die Brandstiftung, die<br />

Christian B. zunächst für einen Racheakt gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber ausgegeben hatte, wurde in<br />

den Augen der Psychiater zum Ergebnis einer «inadäquaten Reaktion» eines «Schwachsinnigen», der seine<br />

Affekte nicht auf äussere Anlässe hin abzustimmen vermochte. Indem das Gutachten bei Christian B.<br />

nebst einer fehlenden Strafeinsicht auch eine «hochgradige Minderung der Willensfreiheit» annahm,<br />

pathologisierte es schliesslich den sozialen <strong>und</strong> symbolischen Konflikt, der gemäss der Aussage von<br />

Christian B. der ursprüngliche Auslöser für die Tat gewesen war. 955 Die ländliche Lebenswelt von<br />

Christian B. verschwand dadurch hinter einem psychopathologischen Erklärungsmuster.<br />

Auch im Fall des 24jährigen Knechts Friedrich S. assoziierten die Sachverständigen «Schwachsinn» ebenso<br />

sehr mit intellektuellen Mängel wie mit gesteigerten Affekten <strong>und</strong> Trieben. Friedrich S., der verschiedener<br />

kleinerer Diebstähle angeschuldigt <strong>und</strong> mehrfach vorbestraft war, hatte sich vor den Untersuchungsbe-<br />

hörden in abweichenden Erzählungen seiner Tat verheddert. Er behauptete zunächst, mit einer Bande auf<br />

Diebestour gegangen zu sein, variierte dann aber wiederholt seine Aussagen über die einzelnen Delikte.<br />

Nachforschungen der Justizbehörden brachten dann jedoch an den Tag, dass die meisten der angegebe-<br />

nen Diebstähle «nur in der Phantasie des Angeklagten existieren». Auch während der Begutachtung erzähl-<br />

te Friedrich S. Geschichten, die den Psychiatern unglaubwürdig erschienen. Er selbst erklärte sich die<br />

Diskrepanzen in seinen Erzählungen durch sein «schlechtes Gedächtnis». Das Gutachten stellte bei Fried-<br />

rich S. aber nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine «moralische Schwäche» fest. So zeige er keiner-<br />

lei Interessen an seiner Familie <strong>und</strong> habe während seinem Leben wiederholt einen «Hang zum Lügen <strong>und</strong><br />

Stehlen» an den Tag gelegt. Was seine Erzählungen über die Diebstähle betraf, bezweifelten die Sachver-<br />

ständigen seine eigenen Erklärungen: «Es ist nun aber nicht das mangelhafte Gedächtnis allein, das an S.’s<br />

sinn- <strong>und</strong> zwecklosen Lügen schuld ist; wie so viele Schwachsinnige hat auch er eine krankhafte Neigung,<br />

einen förmlichen Trieb in den Tag hinein zu lügen.» Diese «Triebhaftigkeit» erklärte in den Augen der<br />

Psychiater auch die eingeklagten Delikte <strong>und</strong> schloss zugleich jede freie Willensbestimmung aus: «Aber<br />

auch, wenn er die richtige Erkenntnis [in die Strafbarkeit] noch besässe, so wäre er nicht im Stande, ihr<br />

gemäss zu handeln, da ethische <strong>und</strong> sittliche Hemmungen, die beim Handeln des ges<strong>und</strong>en Menschen eine<br />

so grosse Rolle spielen, bei ihm völlig fehlen. S. handelt ausschliesslich unter dem Einfluss seiner Triebe,<br />

die, wie bei vielen geistig Beschränkten auch bei ihm übermässig stark entwickelt sind; es trifft das insbe-<br />

sondere für die innewohnenden Triebe zum Lügen <strong>und</strong> Stehlen zu; Lügen <strong>und</strong> Stehlen sind ihm zur zwei-<br />

ten Natur geworden.» 956 Die fehlende Trieb- <strong>und</strong> Affektkontrolle machte in den Augen der Psychiater aus<br />

Friedrich S. einen Spielball seiner Triebe, die auch durch eine Einsicht in die Unrechtsmässigkeit seines<br />

Handelns nicht zu beherrschen gewesen wären. Indem sie die eingeklagten Diebstähle <strong>und</strong> die wechseln-<br />

den Aussagen unkontrollierbaren Trieben zuschrieben, verlegten die Psychiater das abweichende Verhal-<br />

ten von Friedrich S. gleichsam in seine Persönlichkeit hinein. Stärker als mit den intellektuellen Fähigkei-<br />

ten assoziierten sie die «zweite Natur» ihres Exploranden mit dessen affektiven Regungen <strong>und</strong> Trieben.<br />

954 StAB BB 15.4, Band 2081, Dossier 1772, Psychiatrisches Gutachten über Christian B., 19. Juni 1918.<br />

955 Zur «Rache» als Motiv von Brandstiftungen in ländlichen Gebieten: Schulte, 1989, 43f.<br />

956 PZM KG 5598, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich S., 7. Mai 1918.<br />

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