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Psychiatrie und Strafjustiz

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lichkeiten der <strong>Psychiatrie</strong>, zur gesellschaftlichen Bewältigung kriminellen Verhaltens beizutragen. Ihren<br />

Höhepunkt fand diese Ernüchterung in der Schweiz nach der Einführung des neuen Strafgesetzbuchs,<br />

dessen Vollzug die <strong>Psychiatrie</strong> vor beträchtliche Herausforderungen stellte.<br />

Trotz dieser gegenläufigen Tendenzen überschneiden sich die Stellungnahmen der Schweizer Psychiater<br />

von 1893 <strong>und</strong> 1944 in einem für die vorliegende Untersuchung wesentlichen Punkt: beide standen in un-<br />

mittelbarem Bezug zu einem bestehenden juristisch-psychiatrischen Praxisfeld. In beiden Fällen bezogen<br />

sich die Psychiater auf ihre Erfahrungen als Sachverständige vor Gericht, die im Auftrag der Justizbehör-<br />

den die strafrechtliche Verantwortlichkeit sowie die Behandlungs- oder Verwahrungsbedürftigkeit von<br />

DelinquentInnen zu beurteilen hatten. Hinter den Positionsbezügen der Schweizer Psychiater wird somit<br />

eine gesellschaftliche Praxis sichtbar, die sich fernab von der Publizität kriminalpolitischer Auseinander-<br />

setzungen im Justizalltag abspielte. Das in den 1880er Jahren einsetzende rechtspolitische Engagement der<br />

Schweizer Psychiater war denn auch massgeblich durch ihre wachsende Inanspruchnahme als Sachver-<br />

ständige durch die Justizbehörden motiviert. Es wird Aufgabe dieser Untersuchung sein, aufzuzeigen, wie<br />

die Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung eines solchen juristisch-psychiatrischen Praxisfelds mit den erwähnten<br />

kriminalpolitischen Auseinandersetzungen zusammenhingen <strong>und</strong> welche Dynamik sich daraus ergab. Um<br />

nochmals Max Müller zu zitieren, wird es also darum gehen, hinter der «trockenen Formulierung der Pa-<br />

ragraphen» rechtspolitische Konfliktlinien <strong>und</strong> die ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Praktiken zu rekonstruieren.<br />

1.1 Thematik <strong>und</strong> Fragestellungen<br />

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich folglich mit der Entstehung, Entwicklung <strong>und</strong> Ausdiffe-<br />

renzierung eines forensisch-psychiatrischen Praxisfelds in der Schweiz zwischen 1850 <strong>und</strong> 1950. In diesem<br />

Zeitraum erhielt die Präsenz von Ärzten <strong>und</strong> Psychiatern im Justizalltag eine neue Qualität. Wenngleich<br />

StraftäterInnen vereinzelt bereits im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert von Ärzten auf ihren Geisteszustand begutachtet<br />

wurden, vermochten sich gerichtspsychiatrische Begutachtungen in der Schweiz erst in der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts definitiv zu etablieren. Um 1950 war der Einsatz psychiatrischer Sachverständiger in<br />

den meisten Kantonen fester Bestandteil des Justizalltags. Dementsprechend zugenommen hatte die Bedeutung<br />

psychiatrischer Deutungsmuster, Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten in der Strafrechts-<br />

pflege. Wie die zitierten Stellungnahmen der Schweizer Psychiater verdeutlichen, geriet das forensisch-<br />

psychiatrische Praxisfeld nach 1890 zudem in den Sog der (rechts-)politischen Auseinandersetzungen um<br />

die Vereinheitlichung <strong>und</strong> Reform des Strafrechts. Das 1942 in Kraft getretene schweizerische Strafge-<br />

setzbuch stellte die Zusammenarbeit zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> schliesslich auf eine neue gesetz-<br />

liche Gr<strong>und</strong>lage.<br />

Die Ausdifferenzierung eines forensisch-psychiatrischen Praxisfelds im Schnittpunkt zwischen Justiz <strong>und</strong><br />

Medizin vollzog sich vor dem Hintergr<strong>und</strong> zweier komplementärer Entwicklungen. Einerseits stand die<br />

Konstituierung des Praxisfelds in engem Zusammenhang mit der Durchsetzung des bürgerlichen Schuld-<br />

strafrechts <strong>und</strong> der Entstehung eines bürokratisch organisierten Justizapparats seit der ersten Hälfte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Andererseits ist die Herausbildung einer forensisch-psychiatrischen Praxisfelds nicht<br />

vom Aufkommen einer institutionellen <strong>Psychiatrie</strong> zu trennen. Die Ausdifferenzierung einer psychiatri-<br />

schen Teildisziplin innerhalb der Medizin war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das forensisch-<br />

psychiatrische Praxisfeld eine spezifische Entwicklungsdynamik entfalten konnte. Beide Entwicklungen<br />

gingen letztlich auf Bestrebungen der bürgerlichen Gesellschaft zurück, neue gesellschaftliche Regeln <strong>und</strong><br />

Konzepte zur Bewältigung <strong>und</strong> Integration normabweichenden Verhaltens zu etablieren <strong>und</strong> diese sukzes-<br />

sive den Bedingungen der sich modernisierenden Gesellschaft anzupassen. Nicht zufällig markierten Kri-<br />

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