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Psychiatrie und Strafjustiz

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sind. Zweitens soll aufgezeigt werden, welche Rolle diese Interventionen in der spezifischen Dynamik des<br />

Gesetzgebungsprozesses spielten, auf welche Widerstände sie stiessen, welche Unterstützungen sie erfuh-<br />

ren <strong>und</strong> welchen Kompromissen sie unterlagen.<br />

Die Vorschläge der Schweizer Irrenärzte <strong>und</strong> der Vorentwurf von 1893<br />

Im Anschluss an das Referat von Wilhelm von Speyr behandelten die Schweizer Irrenärzte im Mai 1893 in<br />

Chur erstmals gr<strong>und</strong>sätzlich die Frage, wie die Stellung psychisch gestörter StraftäterInnen im künftigen<br />

Strafgesetzbuch geregelt werden sollte. Zur Diskussion standen vier Gesetzesbestimmungen, die von einer<br />

kleinen Kommission ausgearbeitet worden waren, der nebst von Speyr die Psychiater Forel, Bleuler, Wille<br />

<strong>und</strong> Johannes Martin (1851–1939) angehörten. Zwei der Bestimmungen betrafen die (verminderte) Zu-<br />

rechnungsfähigkeit, zwei die sichernden Massnahmen gegen geistesgestörte DelinquentInnen. Ebenfalls<br />

an der Jahresversammlung teil nahm Carl Stooss, der zu jener Zeit mit der Abfassung des ersten Vorent-<br />

wurfs zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch beschäftigt war. Bereits 1889 hatte Ludwig Wille auf<br />

einer Vereinsversammlung in der Rheinau die Aufnahme einer verminderten Zurechnungsfähigkeit in das<br />

künftige Einheitsstrafrecht gefordert. 521 1891 hatte der Verein dann die Einsetzung der besagten Kommis-<br />

sion zur weiteren Behandlung von irren-, straf- <strong>und</strong> zivilrechtlichen Fragen beschlossen. 522 Im Hinblick<br />

auf die anstehende Strafrechtsreform kamen die Kommissionsmitglieder überein, den strafrechtlichen<br />

Fragen Priorität einzuräumen <strong>und</strong> zu deren weiteren Behandlung gezielt auf die bestehenden Netzwerke<br />

mit den führenden Strafrechtsreformern zurückzugreifen, um dadurch ihre Nichtberücksichtigung in der<br />

b<strong>und</strong>esrätlichen Expertenkommission zu kompensieren. In enger Zusammenarbeit mit Stooss erarbeiteten<br />

sie daraufhin die der Versammlung von Chur vorgelegten Bestimmungen. 523 Bezüglich der Zurech-<br />

nungsfähigkeit besass der Kommissionsentwurf zwei Stossrichtungen. Zum einen schlug die Kommission<br />

eine rein medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit vor, zum andern verlangte sie die Aufnahme<br />

einer Bestimmung über die verminderte Zurechnungsfähigkeit ins künftige Einheitsstrafrecht vor.<br />

Was die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit betraf, schloss von Speyrs Argumentation an die Ausfüh-<br />

rungen Willes von 1889 an. Wille hatte die Notwendigkeit eines «Mitteldings» zwischen Zurechnungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Unzurechnungsfähigkeit mit dem Vorkommen zahlreicher «Übergangszuständen» in der psy-<br />

chiatrischen Praxis begründet. Nebst beginnenden Geisteskranken hatte er dabei vor allem die im An-<br />

schluss an die Degenerationstheorie konzeptualisierten «Charakterabnormitäten» im Blick: «Es gibt eine<br />

unendlich grosse Zahl solcher von der Natur schon stets geistig, häufig aber auch körperlich gezeichneter<br />

Defekt- <strong>und</strong> abnormer Menschen, die man nicht als geistig normal, aber auch nicht als geisteskrank, we-<br />

nigstens nicht immer <strong>und</strong> unter allen Verhältnissen als geistig ges<strong>und</strong> oder krank ansehen kann, bei denen<br />

die geistigen Gr<strong>und</strong>lagen, die die volle Zurechnung bedingen, mangelhaft sind. Es mangelt ihnen entweder<br />

die volle Einsicht [...] oder ihr Wille erleidet eine Beschränkung in seiner Freiheit, sie handeln unter Ein-<br />

flüssen, die eine gewisse geistige Unfreiheit bedingen, da sie ihnen gegenüber machtlos sind. Auch solche<br />

Menschen sind nicht voll zurechnungsfähig, ebenso wenig, wie sie unter allen Umständen unzurechnungs-<br />

fähig sind.» 524 Auch von Speyr betonte, dass sich mit der Aufnahme einer verminderten Zurechnungsfä-<br />

higkeit der «Menge dauernder Übergangsformen zwischen geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit» Rechnung<br />

521 «Versammlung der schweizerischen Irrenärzte in Rheinau [27./28. Juni 1889]», in: CBl, 19, 1889, 528-532; Wille, 1890.<br />

522 Ladame, 1920/22, 136.<br />

523 Aufgr<strong>und</strong> der untersuchten Quellen lässt sich nicht eindeutig eruieren, von welcher Seite der Vorschlag zu einer gemeinsamen<br />

Vorlage ausgegangen war. Stooss erwähnte im Vorentwurf von 1893, dass der «glückliche Gedanke», die Frage der Zurechnungsfähigkeit<br />

zu behandeln, von den Irrenärzten ausgegangen sei (VE 1893, 21). Vor der Expertenkommission behauptete er dagegen,<br />

dass die Vorschläge von ihm initiiert worden seien (Expertenkommission, 1893 I, 65). Vgl. Gschwend, 1996, 441, Fussnote 1406.<br />

524 Wille, 1890, 8f.<br />

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