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Psychiatrie und Strafjustiz

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ersten Jahren vor allem aus Stooss, Zürcher <strong>und</strong> dem Genfer Strafrechtler Alfred Gautier (1858–1920)<br />

bestand, räumte kriminalpolitischen Gr<strong>und</strong>satzdebatten einen breiten Raum ein. So veröffentlichten in<br />

den 1890er Jahren sowohl reformorientierte Juristen wie Stooss oder Zürcher, als auch Reformkritiker wie<br />

der Luzerner Oberrichter Placid Meyer von Schauensee (1850–1931) Beiträge, welche die Ausrichtung<br />

eines künftigen schweizerischen Strafrechts thematisierten. Wie in Kapitel 4.2 gezeigt werden soll, spielte<br />

die Zeitschrift über diese disziplinbildende Funktion hinaus auch eine wichtige Rolle beim Aufbau inter-<br />

disziplinärer Netzwerke, namentlich zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern.<br />

Zusätzlich zur Eingabe des Juristenvereins forderte die im Dezember 1887 eingereichte Motion des de-<br />

mokratischen Zürcher Rechtsanwalts <strong>und</strong> Nationalrats Ludwig Forrer (1845–1921) die Übertragung der<br />

Kompetenzen zur Strafgesetzgebung auf den B<strong>und</strong>. Obwohl die Räte die Motion im Frühling 1888 nur in<br />

einer unverbindlichen Formulierung überwiesen, zeitigte der Vorstoss insofern Erfolg, als der B<strong>und</strong>esrat<br />

bereits im Dezember 1887 das Eidgenössische Justiz- <strong>und</strong> Polizeidepartement ermächtigte, in Zusammen-<br />

arbeit mit dem Juristenverein eine «erschöpfende Darstellung der Strafgesetzgebung der schweizerischen<br />

Kantone» zu erarbeiten. 362 Das Justizdepartement beauftragte daraufhin Stooss mit einer Zusammenstellung<br />

der kantonalen Strafrechtsnormen, einer «Erörterung der [...] einem schweizerischen Strafgesetzbuch<br />

zugr<strong>und</strong>e legenden Prinzipien» <strong>und</strong> dem Aufstellen eines ersten Vorentwurfs. 363 Analog zu dem zwischen<br />

1886 <strong>und</strong> 1893 erscheinenden System <strong>und</strong> Geschichte des schweizerischen Privatrechts von Eugen Huber (1849–<br />

1923) sollten diese Vorarbeiten Gr<strong>und</strong>lagen für ein gesamtschweizerisches Strafgesetzbuch legen. Mit der<br />

zwischen 1890 <strong>und</strong> 1893 veröffentlichten vergleichenden <strong>und</strong> systematischen Darstellung des schweizeri-<br />

schen Strafrechts leistete Stooss einen wichtigen Beitrag zur disziplinären Konsolidierung <strong>und</strong> Verfachli-<br />

chung der Schweizer Strafrechtswissenschaft.<br />

Nachdem im Frühjahr 1890 die Kantone Schaffhausen <strong>und</strong> Aargau eine rasche Verwirklichung der Straf-<br />

rechtseinheit verlangt hatten, sprachen sich im Herbst 1892 der Juristenverein <strong>und</strong> der Gefängnisverein<br />

nochmals vehement für die Strafrechtseinheit aus. Im Dezember 1892 forderte schliesslich der Grütliverein<br />

die B<strong>und</strong>esversammlung auf, die für die Strafrechtseinheit notwendige Änderung des B<strong>und</strong>esverfassung<br />

«binnen kürzester» Frist in Angriff zu nehmen. 364 Angesichts dieses politischen Drucks beschloss das Jus-<br />

tizdepartement im Januar 1893 die Einsetzung einer Expertenkommission, welche die Gr<strong>und</strong>sätze des<br />

neuen Strafrechts beraten sollte. 365 Im Juni 1893 legte Stooss einen Vorentwurf für den Allgemeinen Teil<br />

eines Strafgesetzbuchs vor, der die Gr<strong>und</strong>lagen der Expertenberatungen bilden sollte. 366 Das Einsetzen<br />

der Expertenkommission bedeutete für die Schweizer Strafrechtler einen doppelten Erfolg. Zum einen<br />

war es ihnen gelungen, breite Kreise von der Notwendigkeit eines f<strong>und</strong>amentalen Lernprozesses zu über-<br />

zeugen <strong>und</strong> die Strafrechtseinheit auf die politische Agenda zu setzen. Zum andern eröffnete ihnen der<br />

362 BAR E 4110 (A) -/42, Band 20, B<strong>und</strong>esratsbeschluss, 29. Dezember 1887. Zur Motion Forrer: Holenstein, 1996, 357-359. Vor<br />

dem Nationalrat vertrat Louis Ruchonnet die Position des B<strong>und</strong>esrates, der die Inangriffnahme der Strafrechtseinheit zwar gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

befürwortete, jedoch den Zeitpunkt dazu noch nicht für gegeben hielt; vgl. Ruchonnet, 1888.<br />

363 BAR E 4110 (A) -/42, Band 20, Übereinkunft vom 1. Februar 1889.<br />

364 BAR E 4110 (A) -/42, Band 20, Eingaben der Kantone Schaffhausen <strong>und</strong> Aargau, 30. April 1890, respektive 3. Juni 1890;<br />

Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins vom 5./6. September 1892, in: ZSR, 11, 1892, 504-551; BAR E 4110 (A) -<br />

/42, Band 20, Eingabe des Schweizerischen Vereins für Straf- <strong>und</strong> Gefängniswesen, 30. September 1892; BAR E 4110 (A), -/42,<br />

Band 20. Eingabe des Grütlivereins an die B<strong>und</strong>esversammlung, 2. Dezember 1892.<br />

365 SLA Gq 54, Schreiben von B<strong>und</strong>esrat Ruchonnet an Stooss, 7. Januar 1893.<br />

366 Vgl. BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Einladung an die Mitglieder der Expertenkommission, 28. Februar 1893. Zunächst war<br />

geplant gewesen, die Gr<strong>und</strong>sätze des neuen Strafrechts anhand eines Fragebogens in gemeinsamer Diskussion zu erarbeiten.<br />

Dieses Vorgehen wurde durch die Vorlage des von Stooss als «tout à fait personnel et non-officiel» bezeichneten Vorentwurfs<br />

jedoch hinfällig; vgl. BAR E 4110 (A) -/42, Band 21, Schreiben von Stooss an B<strong>und</strong>esrat Ruchonnet, 27. Juni 1893. Der von<br />

Stooss erarbeitete Vorentwurf wurde zudem im Sommer 1893 einer Gruppe von ausländischen Strafrechtsexperten, worunter sich<br />

auch Franz von Liszt befand, zur Begutachtung vorgelegt. Die entsprechenden Antworten sind in BAR E 4110 (A) -/42, Band 57,<br />

überliefert.<br />

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