13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

tenzstelle. 1945 erhielt Münsingen nochmals eine zusätzliche Hilfsarztstelle zugeteilt. Als von 1945 auf<br />

1946 die Zahl der Gutachten erneut um gut 50 Prozent zunahm, forderten die Anstalten von der Regie-<br />

rung unter Verweis auf Beschwerden der Justizbehörden über verspätete Gutachten wiederum mehr Per-<br />

sonal. 1461<br />

Im Gegensatz zu den Gutachten stieg die Zahl der gegen Unzurechnungsfähige <strong>und</strong> vermindert Zurech-<br />

nungsfähige verhängten sichernden Massnahmen nach der Einführung des Strafgesetzbuchs kaum an.<br />

Zwischen 1937 <strong>und</strong> 1941 verhängte der Regierungsrat 162 sichernde Massnahmen gemäss Artikel 47 des<br />

Berner Strafgesetzbuchs. In den folgenden fünf Jahren sprachen die Gerichtsbehörden 158 sichernde<br />

Massnahmen gemäss den Artikeln 14 <strong>und</strong> 15 des neuen Strafgesetzbuchs aus. Allerdings verschob sich die<br />

Ausrichtung der Massnahmen. Zwischen 1937 <strong>und</strong> 1941 wurden 27 Prozent der Verwahrten in psychiatri-<br />

sche Anstalten eingewiesen, zwischen 1942 <strong>und</strong> 1945 bereits 54 Prozent. 1462 Zusätzlich zu den steigenden<br />

Gutachtenzahlen brachte der Vollzug des neuen Strafgesetzbuchs für die psychiatrischen Anstalten somit<br />

eine Zunahme der zu verwahrenden, behandelnden oder versorgenden StraftäterInnen mit sich. Diese<br />

institutionelle Mehrbelastung wurde allerdings insofern durch die Flexibilität des Berner Vollzugsmodell<br />

aufgefangen, als nach wie vor knapp die Hälfte der unzurechnungsfähigen <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähigen<br />

DelinquentInnen, gegen die die Justizbehörden sichernde Massnahmen angeordnet hatten, in<br />

nicht ärztlich geleiteten Anstalten untergebracht wurde.<br />

Diese Vollzugspraxis lässt sich anhand einer zeitgenössischen Statistik über die zwischen 1942 <strong>und</strong> 1950 in<br />

der Waldau begutachteten Fälle im Detail veranschaulichen. Von insgesamt 833 erstatteten Gutachten<br />

schlugen die Sachverständigen der Waldau den Justizbehörden in 88 Fällen eine Verwahrung aufgr<strong>und</strong><br />

Artikel 14 des neuen Strafgesetzbuchs <strong>und</strong> in 108 Fällen eine Versorgung aufgr<strong>und</strong> Artikel 15 vor. In 57<br />

Fällen beantragten sie sichernde Massnahmen aufgr<strong>und</strong> anderer gesetzlicher Bestimmungen, so dass ins-<br />

gesamt bei knapp einem Drittel aller ExplorandInnen sichernde Massnahmen zur Diskussion standen. Die<br />

überwiegende Mehrheit der begutachteten StraftäterInnen wurde dagegen entweder für voll zurechnungs-<br />

fähig bef<strong>und</strong>en (57 Prozent) oder nicht für die Anwendung sichernder Massnahmen vorgeschlagen (12<br />

Prozent). Von den 88 aufgr<strong>und</strong> Artikel 14 zur Verwahrung vorgeschlagenen StraftäterInnen wurde je ein<br />

Viertel in psychiatrische Anstalten oder in Arbeitsanstalten eingewiesen. 11 Prozent wurden in Verwah-<br />

rungsanstalten für «Gewohnheitsverbrecher» versetzt. In 35 Prozent der Fälle verzichteten die Gerichte<br />

entgegen der psychiatrischen Gutachten auf sichernde Massnahmen. Im Gegenzug wurde von den 108<br />

aufgr<strong>und</strong> Artikel 15 zur Versorgung empfohlenen StraftäterInnen die Hälfte in psychiatrische Anstalten<br />

eingewiesen. Bei gut 40 Prozent wurde auf eine Massnahme verzichtet. Einweisungen in Arbeits- <strong>und</strong><br />

Verwahrungsanstalten kamen nur in drei Fällen vor. 1463<br />

Anhand dieser Erhebung lassen sich zwei wesentliche Aspekte des Berner Massnahmenvollzugs aufzeigen.<br />

Zum einen verdeutlicht sie die unterschiedliche Ausrichtung der dabei relevanten Gesetzesbestimmungen.<br />

Wie zeitgenössische Rechtskommentare betonten, stand bei Artikel 15 die Behandlung <strong>und</strong> Versorgung<br />

eindeutig im Vordergr<strong>und</strong>. Dementsprechend war auch der Anteil der aufgr<strong>und</strong> dieser Bestimmung in<br />

psychiatrischen Anstalten untergebrachten DelinquentInnen deutlich höher als bei den aufgr<strong>und</strong> Artikel<br />

14 Eingewiesenen. Zum andern veranschaulicht die Statistik der Waldau die Wirkung des «flexiblen Ber-<br />

ner Modells». Unzurechnungsfähige <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähige DelinquentInnen wurden im Kan-<br />

ton Bern keineswegs ausschliesslich in «Heil- oder Pflegeanstalten» untergebracht, sondern je nach Fall<br />

1461 Jb. Waldau, 1943, 34; 1944, 32f.; 1945, 37; 1946, 35; 1948, 39.<br />

1462 Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1937–1946.<br />

1463 Wyrsch, 1953, 26-30.<br />

356

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!