13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

forderten einen Ausbau der psychiatrischen Infrastruktur. 670 Eine 1882 vom Berner Hilfsverein für Geistes-<br />

kranke <strong>und</strong> 275 Gemeinden eingereichte Petition ebnete schliesslich den Weg zur Finanzierung einer neu-<br />

en Anstalt auf dem Schlossgut in Münsingen durch den für den Ausbau des Inselspitals vorgesehenen<br />

Steuerzehnten. 671 1895 konnte die neue Anstalt mit 500 Plätzen eingeweiht werden. 672 1899 wurde zudem<br />

die alte Abtei Bellelay als Pflegeanstalt für chronische Geisteskranke mit 260 Plätzen eröffnet. 673 1910<br />

wurde wiederum die Waldau erweitert. Trotz dieser Erweiterungen diskutierten die Verantwortlichen ver-<br />

schiedene weitere Projekte, so etwa die Einrichtung von speziellen Abteilungen für «verbrecherische Geis-<br />

teskranke» in der Strafanstalt Thorberg oder den Bau einer vierten kantonalen Irrenanstalt. 674<br />

Der Bau <strong>und</strong> Ausbau der kantonalen Irrenanstalten bot die Gr<strong>und</strong>lage für die Ausdifferenzierung einer<br />

spezialisierten <strong>Psychiatrie</strong> im Kanton Bern. Treibende Kräfte in diesem Ausdifferenzierungsprozess waren<br />

einerseits staatliche <strong>und</strong> private Reformbestrebungen, andererseits die anhaltenden Versorgungsprobleme<br />

der Gemeinden, denen vor allem die Unterbringung von «gemeingefährlichen» Geisteskranken Schwierig-<br />

keiten bereitete. Der Aufbau eines neuen Versorgungssystems für geistesgestörte Menschen war das Re-<br />

sultat eines sich in einem therapeutischen Optimismus äussernden Einstellungswandels der bürgerlichen<br />

Gesellschaft gegenüber ihren «Irren», aber auch Ausdruck gewachsener gesellschaftlicher Sicherheitsbe-<br />

dürfnisse. In diesem Spannungsfeld standen auch die forensischen Aufgaben der neuen Irrenanstalten.<br />

Diese kamen der wachsenden Sensibilisierung der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> gegenüber zweifelhaften Geis-<br />

teszuständen insofern entgegen, als sie eine fachgerechte Begutachtung <strong>und</strong> Unterbringung der für geis-<br />

tesgestört bef<strong>und</strong>enen DelinquentInnen erlaubten. Das erneuerte Organisationsreglement der Waldau von<br />

1866 erwähnte denn auch erstmals die Begutachtungsaufgaben der Anstaltsärzte. 675 Der Bau der Irrenan-<br />

stalten bedeutete aber auch eine wichtige Etappe auf dem Weg zur fachlichen Spezialisierung der Psychiat-<br />

rie. Bereits das erste Organisationsreglement sah in der Waldau einen Ort zur «Bildung angehender Irren-<br />

ärzte durch klinischen Unterricht». 676 Eine psychiatrische Klinik wurde dort 1861 erstmals abgehalten. Die<br />

Direktoren der Waldau, Rudolf Schärer (Amtszeit 1859–1890) <strong>und</strong> Wilhelm von Speyr (Amtszeit 1890–<br />

1930), wirkten in der Folge ebenfalls als Dozenten an der Universität Bern. 677<br />

Die neue «psychiatrische Ordnung» als Anstaltstechnologie<br />

Der Aufbau einer psychiatrischen Infrastruktur beschränkte sich aber nicht darauf, Unterbringungsmög-<br />

lichkeiten bereitzustellen <strong>und</strong> spezialisierte Ärzte auszubilden. Er war von der Entwicklung einer eigentli-<br />

chen Anstaltstechnologie begleitet, welche die Art der Behandlung, die tägliche Zeiteinteilung <strong>und</strong> den<br />

Umgang der Patienten <strong>und</strong> Patientinnen untereinander sowie gegenüber den Ärzten <strong>und</strong> dem Pflegeper-<br />

sonal bestimmte. 678 Psychiatrische Anstalten wurden als therapeutische Instrumente in den Händen der<br />

Ärzte konzipiert. Das Konzept der psychiatrischen Anstalt im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ging davon aus, dass die<br />

Anstalt als solche, respektive die «psychiatrische Ordnung», die sie begründete, einen therapeutischen<br />

Effekt hatte. Sie isolierte die Geisteskranken aus ihrer Lebenswelt, die als störender Einfluss auf die<br />

Krankheit verstanden wurde. 679 Auch das Gutachten von 1834 über das alte «Tollhaus» hatte das Fehlen<br />

einer solchen Anstaltsordnung kritisch hervorgehoben: «Von einer vernünftigen Hausordnung ist keine<br />

670 Vgl. Münsingen, 1995, 13.<br />

671 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 119-123.<br />

672 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 124-133.<br />

673 Knoll, 1932, 9-22.<br />

674 Wyrsch, 1955, 74-77.<br />

675 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 143.<br />

676 SLB VBE 4862, Organisationsreglement 1855, Artikel 2.<br />

677 Bickel, 1984, 253; Wyrsch, 1955, 102-104.<br />

678 Vgl. Foucault, 1976, 173-292.<br />

679 Vgl. Goldstein, 1987, 285-292; Castel, 1979, 97-102.<br />

147

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!