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Psychiatrie und Strafjustiz

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lichkeit» einhergehende Pathologisierung kriminellen Verhaltens führte unweigerlich dazu, dass die Justiz-<br />

behörden einer wachsenden Zahl von DelinquentInnen eine verminderte Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> damit<br />

mildernde Umstände zugestanden. Von Speyr machte auf der Versammlung Irrenärzte von 1893 klar, dass<br />

sich die Forderung nach einer «andern Bestrafung» in erster Linie denn auch gegen die «Grenzfälle» par<br />

excellence, die «PsychopathInnen», richtete: «Wenn ein Psychopath vermindert zurechnungsfähig ist, so darf<br />

er weniger bestraft werden, aber weil er Psychopath ist, darum wird er sich viel eher gegen die Gesellschaft<br />

verfehlen, <strong>und</strong> darum sollte er um so eher unschädlich gemacht erden.» 581<br />

Die Vorschläge, die die Schweizer Irrenärzte 1893 in Chur verabschiedeten, gingen von einer Gleichbe-<br />

handlung unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähiger StraftäterInnen aus. Demnach soll-<br />

ten gegen beide Gruppen gleichermassen sichernde Massnahmen verhängt werden können. 582 Im Ver-<br />

gleich zur bestehenden Rechtsprechung beschritten die Irrenärzte damit Neuland. Künftig sollte es dem<br />

Richter möglich sein, eine unbefristete Verwahrung oder Versorgung anstelle der (verkürzten) Strafe an-<br />

zuordnen. Über die Entlassung aus dem Massnahmenvollzug hätte ebenfalls das Gericht zu entscheiden<br />

gehabt. Damit wäre der institutionelle Zugriff der <strong>Psychiatrie</strong> auf eine neue Gruppe von DelinquentInnen<br />

ausgeweitet worden, die – im Gegensatz zu den gänzlich Unzurechnungsfähigen – bisher lediglich durch<br />

den regulären Strafvollzug erfasst worden waren <strong>und</strong> nicht als geisteskrank im eigentlichen Sinne bezeich-<br />

net wurden. Dass dies ganz im Sinne der Strafrechtsreformer war, wird dadurch deutlich, dass Stooss die<br />

von den Irrenärzten vorgeschlagene Fassung nahezu unverändert in den Vorentwurf von 1893 aufnahm.<br />

Stooss anerkannte in seinen Erläuterungen, «dass nicht nur vollkommen Unzurechnungsfähige, sondern<br />

auch vermindert Zurechnungsfähige öfters die öffentliche Sicherheit in hohem Grade gefährden <strong>und</strong> ihre<br />

Verwahrung in einer Irrenanstalt ein Gebot der öffentlichen Sicherheit sei». 583 Das Beispiel der vermindert<br />

Zurechnungsfähigen zeigt somit deutlich Stooss’ Bereitschaft, Hand zu einer teilweisen Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens zu bieten.<br />

Wie die medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit stiess auch die vorgeschlagene Gleichbehand-<br />

lung von unzurechnungsfähigen <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähigen StraftäterInnen auf heftigen Wider-<br />

stand seitens der Kritiker des Vorentwurfs. Verteidiger des traditionellen Schuldstrafrechts wie Gretener<br />

oder B<strong>und</strong>esanwalt Albert Scherb (1839–1908) stiessen sich dabei weniger an der geforderten Ausweitung<br />

des institutionellen Zugriffs der <strong>Psychiatrie</strong> als am vorgesehenen Ersatz der Strafe durch eine Massnahme,<br />

was in ihren Augen zu einer laxen Rechtsprechung führen musste. Scherb meinte in der Expertenkommis-<br />

sion von 1893: «Ich will nicht gefährliche Geisteskranke ins Zuchthaus bringen; diese sind unzurech-<br />

nungsfähig <strong>und</strong> nicht strafbar. Dagegen ist bei den vermindert Zurechnungsfähigen doch ein gewisses<br />

Mass strafbaren Verschuldens anzunehmen, für das Strafe eintreten soll. [...] ich verlange, dass den ver-<br />

mindert Zurechnungsfähigen unter allen Umständen die dem Masse seiner Zurechnungsfähigkeit entspre-<br />

chende Strafe treffe.» 584 Ähnlich wie die Bestimmungen über die Verwahrung von «Gewohnheitsverbrechern»<br />

erschien den Kritikern des Vorentwurfs der Versuch, die strafrechtliche Repression partiell durch<br />

regulative – in diesem Fall: medizinische – Behandlungsmassnahmen zu ersetzen, als Unterwanderung des<br />

Schuldprinzips. Die Kommission einigte sich schliesslich auf den Kompromiss, wonach der Richter so-<br />

581 Speyr, 1894, 189.<br />

582 E 4110 (A) -/42, Band 21, Protokoll der Versammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Chur am 22 u. 23 Mai 1893<br />

(siehe Anhang 1).<br />

583 VE 1893, 24.<br />

584 Expertenkommission, 1893 I, 76.<br />

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