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Psychiatrie und Strafjustiz

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das, was man die geborenen Verbrecher nennt.» 703 Abgesehen von diesen «moralisch Defekten» gäbe es<br />

aber, so Glaser, «noch eine grosse Zahl solcher Grenzzustände geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit. [...]<br />

Diese so genannten geistig minderwertigen Personen oder psychopathischen Persönlichkeiten fallen vor<br />

allem in ihren Gefühlsreaktionen, aber auch im Denken <strong>und</strong> Wollen oder in der Gesamtheit ihrer geistigen<br />

Funktionen mehr oder weniger aus dem Rahmen der Norm, ohne schwachsinnig zu sein <strong>und</strong> ohne den in<br />

den Lehrbüchern beschriebenen Formen ausgeprägter Geistesstörungen sich einzufügen.» 704 Was Glaser<br />

hier vortrug, war nichts anderes als eine begrifflich aktualisierte Fassung seines Referats von 1887 <strong>und</strong> eine<br />

popularisierte Version des Konzepts der «psychopathischen Persönlichkeit», wie sie etwa in Kraepelins<br />

Lehrbuch von 1904 enthalten war. Glasers Referat von 1911 verdeutlicht zugleich die hohe Kontinuität<br />

der psychiatrischen Deutungsmuster im Untersuchungszeitraum. Die Deutungsmuster, die im Anschluss<br />

an die Degenerationstheorie entstanden waren, prägten die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton<br />

Bern denn auch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hinein. 705<br />

Die administrative Verankerung der neuen Deutungsmuster<br />

Der im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ins Blickfeld der <strong>Psychiatrie</strong> geratene Übergangsbereich zwi-<br />

schen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit schlug sich auch in der offiziellen Klassifikation der Geistesstörungen<br />

durch die Berner Irrenanstalten nieder. Die Berner Irrenzählung von 1871 hatte noch lediglich zwischen<br />

«angeborener» <strong>und</strong> «erworbener Geisteskrankheit», zwischen «Idioten» <strong>und</strong> «Irren» unterschieden. Diese<br />

Einteilung entsprach freilich weniger dem Grad der Ausdifferenzierung des damaligen psychiatrischen<br />

Wissens als dem Ziel der Statistik, die Aufschluss über die Art <strong>und</strong> Weise der benötigten Versorgungseinrichtungen<br />

geben sollte. 706 Seit den 1880er Jahren verfügte die Waldau über ein differenzierteres Raster zu<br />

statistischen Erfassung der eingetretenen Kranken. Auch wenn das Raster der Waldau weitgehend admi-<br />

nistrativen Charakter trug <strong>und</strong> der Vielfalt der bekannten Krankheitsformen nur teilweise Rechnung trug,<br />

lässt sich daraus doch in groben Zügen die Klassifikation der Geistesstörungen, wie sie in der Berner Psy-<br />

chiatrie üblich war, ersehen. Dieses Klassifikationsraster trug der Systematisierung der klinischen Krank-<br />

heitsformen, wie sie im deutschsprachigen Raum seit dem erstmaligen Erscheinen des Lehrbuchs von<br />

Emil Kraepelin in den 1880er Jahren gängig war, in Gr<strong>und</strong>zügen Rechnung. Die wichtigsten Gruppen in<br />

Kraepelins Nosologie waren bekanntlich endo- <strong>und</strong> exogene Psychosen, «Oligophrenien» (Intelligenzmin-<br />

derungen) sowie «Entartungszustände». Aus dieser Einteilung resultierte schliesslich die heute noch aktuel-<br />

le (triadische) Einteilung in Psychosen, Oligophrenien <strong>und</strong> Persönlichkeitsstörungen. 707<br />

Der Jahresbericht der Waldau von 1892/93 unterschied sechs Gruppen von Geistesstörungen: (1) «Ange-<br />

borene Störungen», (2) «erworbene einfache Störungen», (3) «paralytisch-senil-organische Störungen», (4)<br />

«Störungen mit Epilepsie», (5) «Intoxikationspsychosen», (6) «Nicht geisteskrank». 708 Die erste Gruppe<br />

umfasste verschiedene Stufen von Intelligenzminderungen, die von leichterem «Schwachsinn» bis zu aus-<br />

geprägter «Idiotie» reichen konnten. Gruppe 2 beinhaltete Psychosen wie «Manie», «Verrücktheit» <strong>und</strong><br />

später «Dementia praecox» (Schizophrenie). 709 Gruppe 3 <strong>und</strong> Gruppe 5 enthielten exogene Störungen wie<br />

Progressive Paralyse (Syphilis), Altersdemenz <strong>und</strong> alkoholische Störungen. Gruppe 4 umfasste epileptische<br />

703 Glaser, 1911, 9.<br />

704 Glaser, 1911, 11.<br />

705 Auf entsprechend wenig Resonanz stiessen im Bereich der Forensik psychoanalytisch orientierte Deutungsmuster. Einen<br />

Vorstoss in diese Richtung unternahm im Kanton Bern erstmals Müller, 1925.<br />

706 Fetscherin, 1872, 3.<br />

707 Trenkmann, 1988, 201-240.<br />

708 Jb. Waldau, 1892-94, 23f.<br />

709 Die Bezeichnung «einfache Störungen» ist deshalb missverständlich. In der Tat handelte es sich hierbei um schwere psychotische<br />

Störungen; vgl. Blasius, 1994, 7f.<br />

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