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Psychiatrie und Strafjustiz

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als eine allfällige reguläre Strafe aus, so dauerte bei Christian G. der Massnahmenvollzug deutlich länger,<br />

als dies im Fall einer regulären Bestrafung der Fall gewesen wäre. Je nach Fallkonstellation <strong>und</strong> dem Er-<br />

messen der beteiligten Ärzte <strong>und</strong> Behörden konnten sichernde Massnahmen somit sowohl sanktionsver-<br />

längernd, als auch sanktionsverkürzend wirken. Auf jeden Fall erlaubten sichernde Massnahmen Freiheit-<br />

sentzüge, deren Dauer flexibel <strong>und</strong> unabhängig von der begangenen Straftat blieb. Gr<strong>und</strong>sätzlich eröffne-<br />

ten sie dadurch institutionelle Zugriffe auf DelinquentInnen, die weit über die regulären Strafmasse hi-<br />

nausgehen konnten. Beispielhaft zum Ausdruck kommt diese Ausweitung des institutionellen Zugriffs im<br />

Fall von Alfred H., gegen den 1913 wegen verschiedener Drohbriefe ermittelt wurde. Aufgr<strong>und</strong> eines<br />

Gutachtens der Anstalt Münsingen wurde Alfred H. als unzurechnungsfähig <strong>und</strong> «gemeingefährlich» be-<br />

f<strong>und</strong>en. Auch in seinem Fall sollte die vom Regierungsrat angeordnete Verwahrung endgültig sein. Ob-<br />

wohl Alfred H. vergleichsweise geringfügige Delikte begangen hatte, blieb er aufgr<strong>und</strong> des Regierungs-<br />

ratsbeschluss von 1913 bis zu seinem Tod im Jahre 1935 in Münsingen interniert. 1157<br />

Diese Fallbeispiele zeigen, wie sich die partielle Medikalisierung des Strafrechts in der Behandlung der<br />

verwahrten «gemeingefährlichen» StraftäterInnen niederschlug. Von den 313 zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920<br />

durch sichernde Massnahmen effektiv betroffenen DelinquentInnen wurden 209 (66,8%) in Irrenanstal-<br />

ten, 60 (19,2%) in andere Anstalten eingewiesen. Gegen 44 Personen (14,0%) ordnete der Regierungsrat<br />

andere Massnahmen wie Vorm<strong>und</strong>schaft, Ausweisung, Schutzaufsicht oder Aufsicht durch die Gemeinde<br />

oder die Angehörigen an. Bei den nicht medizinisch geleiteten Anstalten handelte es sich um Arbeitserzie-<br />

hungsanstalten, Armenanstalten, Trinkerheilanstalten oder Erziehungsanstalten für junge Erwachsene. Die<br />

Einweisungen in Arbeitserziehungsanstalten zeigen, dass der Regierungsrat von der Befugnis, die ihm das<br />

Gesetz von 1884 <strong>und</strong> das revidierte Armenpolizeigesetz von 1912 gab, regelmässig Gebrauch machte.<br />

Insgesamt wurden zwei Drittel der verhängten sichernden Massnahmen in psychiatrischen Institutionen<br />

vollzogen. Für diese Gruppe von DelinquentInnen stand die psychiatrische Begutachtung <strong>und</strong> die Beja-<br />

hung der Frage der «Gemeingefährlichkeit» somit am Beginn einer institutionellen Eingliederung ins Be-<br />

zugssystem der <strong>Psychiatrie</strong>. Bei einem weiteren Achtel führten sichernde Massnahmen zwar nicht zu ei-<br />

nem eigentlichen Freiheitsentzug, jedoch zu Beschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit.<br />

Nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende differenzierte sich der Berner Massnahmenvollzug allerdings zunehmend aus.<br />

Dabei nuancierte sich auch die Verwahrungsfunktion der psychiatrischen Anstalten. In der ersten Fünfjah-<br />

resperiode (1896–1900) wurden 29 (82,8%) von insgesamt 35 sichernden Massnahmen in Irrenanstalten<br />

vollzogen. Fünf Personen (14,3%) wurden in andere Anstalten eingewiesen, gegen eine wurde die Auswei-<br />

sung aus dem Kanton Bern verfügt. 1916–1920 wurden dagegen 45,2% der betroffenen Personen in Ir-<br />

renanstalten <strong>und</strong> 29,8% in nicht medizinisch geleitete Anstalten eingewiesen. Gegen 25,0% der Betroffe-<br />

nen wurden andere Massnahmen verhängt. Die Ausdifferenzierung <strong>und</strong> Individualisierung des Massnah-<br />

menvollzugs verdeutlichen exemplarisch die Beschlüsse des Regierungsrats im Jahre 1912. Von 18 Personen<br />

wurden neun Männer <strong>und</strong> zwei Frauen in Irrenanstalten sowie zwei Männer in Arbeitserziehungsan-<br />

stalten eingewiesen. Ein an «Altersblödsinn» leidender Mann wurde in eine Armenanstalt versetzt. Gegen<br />

drei Männer ordnete der Regierungsrat eine Ausweisung an. In einem letzten Fall leitete er eine Bevor-<br />

m<strong>und</strong>ung aufgr<strong>und</strong> von Artikel 369 des Zivilgesetzbuches ein. Zusätzlich fasste die Regierung gegen die-<br />

sen wegen «betrügerischem Bettel» angeschuldigten Mann eine Anstaltseinweisung ins Auge. 1158<br />

Die festgestellte Ausweitung der Verwahrungspraxis ging zeitlich mit einem anteilsmässigen Rückgang des<br />

psychiatrischen Massnahmenvollzugs einher. Der Prozentsatz der in Irrenanstalten vollzogenen sichern-<br />

1157 StAB A II, Band 1480, RRB 3714, PZM KG 4111.<br />

1158 StAB A II, Band 1478, RRB 739, 2898, 4206, 4884, 5829, 6035.<br />

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