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Psychiatrie und Strafjustiz

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der «abwehrenden Massnahmen» an die individuelle «Gefährlichkeit» der Verbrecher durch die Einfüh-<br />

rung eines unbestimmten Strafmasses erreichen. 305<br />

Durch die Entkoppelung der Sanktionspraxis vom individuellen Verschulden eröffneten die Kriminal-<br />

anthropologen der strafrechtlichen Repression neue Perspektiven. An die Stelle des Legalitäts- <strong>und</strong> Ge-<br />

rechtigkeitsprinzips traten nun kriminalpolitische Zweckmässigkeitsüberlegungen. Als Modell des neuen<br />

Strafparadigmas dienten in erster Linie sichernde Massnahmen, wie sie bereits bei der Verwahrung von<br />

Geisteskranken Anwendung gef<strong>und</strong>en hatten. Das neue Paradigma trug den Medikalisierungsbestrebun-<br />

gen der Psychiater insofern Rechnung, als es die Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» zu einer medizi-<br />

nischen Aufgabe machte. Die Preisgabe des Schuldprinzips stellte gleichsam das strafrechtliche Korrelat<br />

zur kriminalanthropologischen Konstituierung des Homo criminalis als Wissensobjekt dar. In beiden Fällen<br />

rückte die Täterperson ins Zentrum eines Strafwissens, das den Anspruch vertrat, nicht nur die «Natur des<br />

Verbrechers», sondern auch die zweckmässigste Ausgestaltung der Strafe zu kennen.<br />

Franz von Liszt <strong>und</strong> die deutsche Strafrechtsreformbewegung<br />

Zwar stiessen die Reformvorschläge der Kriminalanthropologen auch ausserhalb Italiens auf Interesse, so<br />

etwa beim Schweizer Juristen Emil Zürcher (1850–1926). 306 Der zentrale Bezugspunkt für die Strafrechts-<br />

reformbewegung im deutschsprachigen Raum bildete allerdings das «Marburger Programm» des liberalen<br />

Strafrechtlers Franz von Liszt, der 1882 im Jahresbericht der Universität Marburg das Konzept einer<br />

«Zweckstrafe» postulierte, deren Ziel ein effizienter staatlicher Rechtsgüterschutz sein sollte. 307 Die Schrif-<br />

ten von Liszts beeinflussten massgeblich die juristischen Lernprozesse, die bis zum Ausbruch des Ersten<br />

Weltkriegs zur Formulierung einer neuen Kriminalpolitik führten, welche in der teilweisen Medikalisierung<br />

des Strafrechts ein probates Mittel zur gesellschaftlichen Bewältigung kriminellen Verhaltens sah.<br />

Von Liszt bezog sich in seiner Programmschrift von 1882 nur am Rande auf die italienischen Kriminal-<br />

anthropologen, deren Theorie vom «geborenen Verbrecher» er skeptisch gegenüberstand. Wie viele deut-<br />

sche <strong>und</strong> französische Psychiater ging aber auch er davon aus, dass ein grosser Teil der Verbrecher<br />

«Kennzeichen einer körperlichen <strong>und</strong> geistigen Entartung» aufweisen würden. 308 Ausgangspunkt für seine<br />

Forderung nach einer Strafrechtsreform war vielmehr die Feststellung der «Ohnmacht» der Justiz gegen-<br />

über der in der Kriminalstatistik registrierten Zunahme der Verbrechen <strong>und</strong> insbesondere der Rückfällig-<br />

keit. 309 Von Liszt schloss dabei an eine Debatte an, die deutsche Juristen seit den 1870er Jahren über die<br />

vermeintliche Ineffizienz der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> führten. 310 Auch der Psychiater Kraepelin hatte sich<br />

1880 mit der Forderung nach der «Abschaffung des Strafmasses» in diese Diskussion eingeschaltet <strong>und</strong> die<br />

Umgestaltung des Strafrechts zu einem «Schutzmittel» der Gesellschaft gefordert. Kraepelins Auffassung<br />

nach sollte an die Stelle einer «schablonenmässigen Abstrafung» eine vom Verschulden unabhängige Be-<br />

handlung der DelinquentInnen treten, die je nach Fall deren «Besserung» oder «Unschädlichmachung»<br />

zum Ziel haben würde. 311<br />

Mit seinen Lehrer Rudolf von Ihering (1818–1892), der 1877 das Schlagwort vom Zweck im Recht geprägt<br />

<strong>und</strong> den Zweck des Strafrechts als «Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft» definiert hatte,<br />

305 Ferri, 1896, 407f.<br />

306 Vgl. Zürcher, 1892; Holenstein, 1996, 264-290.<br />

307 Vgl. Ehret, 1996; Andriopoulos, 1996, 71-91, Wetzell, 1996; Schmidt, 1995, 357-386; Bohnert, 1992; Frommel, 1991; Frommel,<br />

1987; Naucke, 1982.<br />

308 Liszt, 1905, 302-312.<br />

309 Liszt, 1883, 4; Liszt 1905, 322.<br />

310 Vgl. Mittelstädt, 1878; Wahlberg, 1869.<br />

311 Kraepelin, 1880; Engstrom, 2001.<br />

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