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Psychiatrie und Strafjustiz

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homosexuellen Alfred M.: «Er ist ein ‹schöner Jüngling› mit Lockenhaar, einem Kreuzchen auf der nack-<br />

ten Brust, munter <strong>und</strong> unbeeindruckt <strong>und</strong>, es mag wohl nur das rauhe Kleid <strong>und</strong> die schweren Schuhe von<br />

Witzwil sein, wenn eine gewisse Zierlichkeit in seinem Benehmen <strong>und</strong> Gang nicht sofort auffällt. Er er-<br />

zählt mit züchtigem Erröten, er sei zu Hause fortgelaufen <strong>und</strong> mit Homosexuellen in Basel zusammen<br />

gewesen <strong>und</strong> habe dort 400 Franken gestohlen.» 1627 Im Fall eines als «schwererziehbar» in Witzwil einge-<br />

lieferten Franzosen meinte Wyrsch dagegen: «Er ist auf französisch ungefähr das, was der gleichen Tags<br />

untersuchte F. auf zürcherisch ist, nur dass die Herkunft <strong>und</strong> die äusseren Verhältnisse anders sind.» 1628<br />

Diese beiden Beispiele mögen Wyrschs Bemühen um Anschaulichkeit belegen. Das regelmässige Rekur-<br />

rieren der Sprechst<strong>und</strong>enberichte auf Alltagswissen war allerdings weniger das Ergebnis einer intendierten<br />

Vermittlungsleistung im Sinne einer «Popularisierung» von Fachwissen als das Resultat einer Antizipation<br />

der Wissensbedürfnisse der Adressaten der Berichte. Der Entstehungskontext <strong>und</strong> der Verwendungs-<br />

zweck prägte demnach sowohl Form, als auch Inhalt der Sprechst<strong>und</strong>enberichte. Psychiatrisches Fachvo-<br />

kabular fand dabei höchstens in Form von Diagnosen oder interdiskursiv verfügbaren Attributen wie<br />

«psychopathisch» Eingang in die Berichte. Die Diskurse, die aus der psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>enpraxis<br />

im Kanton Bern hervorgingen, hatten somit wenig mit der etwa von Dukor geforderten wissenschaftli-<br />

chen Systematisierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> zu tun. Wie der psychiatrische Dienst in erster Linie<br />

dazu diente, vollzugspraktische Probleme der Berner Strafvollzugsbehörden zu lösen, so reproduzierte er<br />

auch deren Sprache.<br />

Fazit: Punktuelle Medikalisierung als Absicherung des Berner Vollzugsmodells<br />

Die Einrichtung eines psychiatrischen Diensts im Berner Strafvollzug verdeutlicht exemplarisch die Inten-<br />

sivierung <strong>und</strong> ansatzweise Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen Strafvollzugsbehörden <strong>und</strong><br />

<strong>Psychiatrie</strong> nach der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs. Der forensisch-psychiatrische<br />

Tätigkeitsbereich weitete sich dadurch definitiv von der Begutachtungspraxis auf den Straf- <strong>und</strong> Mass-<br />

nahmenvollzug aus. Wie die untersuchten Fallbeispiele aus Witzwil zeigen, diente die psychiatrische<br />

Sprechst<strong>und</strong>enpraxis in erster Linie einer reibungslosen Implementierung der Strafvollzugsreform <strong>und</strong> des<br />

Berner Vollzugsmodells. Der psychiatrische Dienst kam dabei den Bedürfnissen der Strafvollzugsbehör-<br />

den nach einem praxisnahen Strafwissen <strong>und</strong> Instrumenten zur Aufrechterhaltung eines reibungslosen<br />

Strafvollzugs entgegen. Die Tätigkeit der Sprechst<strong>und</strong>enpsychiater fügte sich dadurch weitgehend in die<br />

asymmetrischen Machtverhältnisse des Strafvollzugs ein. Allerdings eröffnete der psychiatrische Dienst<br />

einzelnen Insassen auch Nischen, um beschränkte Handlungskompetenzen wahrzunehmen. Für die Psy-<br />

chiater bedeutete die neue Tätigkeit eine Akzentuierung ihrer Selektionsfunktionen im Straf- <strong>und</strong> Mass-<br />

nahmenvollzug. Die Möglichkeit, Empfehlungen über Verlegungen, Entlassungen <strong>und</strong> andere Vollzugs-<br />

massnahmen abzugeben, gab den Psychiatern ein Instrument in die Hand, die Zuweisung von Sträflingen<br />

an psychiatrische Institutionen wirkungsvoll zu kontrollieren. Indem der psychiatrische Dienst den Medi-<br />

kalisierungsgrad des regulären Strafvollzugs erhöhte, entlastete er gleichzeitig die <strong>Psychiatrie</strong> bei der Aufnahme<br />

missliebiger «Grenzfälle». Der punktuelle Ausbau des Medikalisierungsangebots, den die psychiat-<br />

rischen Sprechst<strong>und</strong>en mit sich brachten, trug demnach dazu bei, allfällige dysfunktionale Auswirkungen<br />

des Berner Vollzugsmodells zu reduzieren. Kaum Impulse vermochte der psychiatrische Dienst dagegen<br />

im Hinblick auf eine weiterführende Spezialisierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> zu vermitteln. 1629 Der<br />

1627 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Alfred M. an die Strafanstalt Witzwil, 5. Juni 1947.<br />

1628 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Arthur B. an die Strafanstalt Witzwil, 20. Oktober 1948.<br />

1629 Vgl. Janiak, 1976, 171, wonach der psychiatrische Dienst in Witzwil «überhaupt keine Bedeutung erlangt» habe. Die von<br />

Janiak angeführten Zahlen zeigen, dass der Anteil der psychiatrisch untersuchten Insassen zu Beginn der 1970er Jahre deutlich<br />

unter den hier für die 1940er Jahren errechneten Werte lag.<br />

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