13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

der individuellen Freiheit sowohl das Wesen des Staatsbürgers, als auch die Bedingung für dessen straf-<br />

rechtliche Verantwortlichkeit aus: «Die Freiheit wird bei Menschen, die sich zu einem Staat vereinigen, als<br />

notwendig vorausgesetzt. Das Gesetz kann daher nur an freie Menschen gerichtet werden <strong>und</strong> die Strafe<br />

kann nur diejenigen treffen, welche zwischen Übertretung <strong>und</strong> Nichtübertretung des Gesetzes nach eige-<br />

nem Entschlusse; durch Vernunftgründe bestimmt zu wählen im Stande sind, d.i. psychisch frei sind.» 156<br />

Staatsbürgerschaft <strong>und</strong> strafrechtliche Verantwortlichkeit wurden hier an das Vorhandensein von Ver-<br />

nunft <strong>und</strong> Willensfreiheit geknüpft. Das Fehlen dieser Attribute hatte im Gegenzug den Verlust der<br />

Rechtsfähigkeit <strong>und</strong> der Zurechnungsfähigkeit zur Folge: «[...] jenes Individuum, welches zur Zeit der<br />

begangenen Tat sich in einem psychisch-unfreien Zustande befand, ist nicht zurechnungsfähig.» 157 Ganz<br />

im Sinn dieser aufgeklärten Vernunft- <strong>und</strong> Willenssemantik definierten die meisten deutschsprachigen<br />

Strafgesetze des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Zurechnungsfähigkeit mit Hilfe der psychologischen Kriterien der<br />

Strafreinsicht <strong>und</strong> der Willensfreiheit. Teilweise wurden diese allgemeinen Kriterien durch namentlich<br />

aufgeführte Geisteszustände, die dem Verlust der Vernunft oder der Willensfreiheit gleichkamen, er-<br />

gänzt. 158<br />

Eine Definition der Zurechnungsfähigkeit, wie sie das Preussische Landrecht oder der Arzt Friedreich<br />

vornahmen, ging von der Norm des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen aus. Einen anderen Ansatz<br />

vertraten die Verfechter der reinen Abschreckungstheorie. Lag der Zweck der Strafe nicht primär in der<br />

Bestrafung schuldhafter Handlungen, sondern in der Abschreckung potentieller StraftäterInnen, musste<br />

die strafrechtliche Ordnung konsequenterweise dort ihre Grenzen finden, wo sich einzelne DelinquentIn-<br />

nen durch wiederholte Strafen nicht von kriminellen Handlungen abhalten liessen. Generalpräventive<br />

Straftheorien setzten deshalb Zurechnungsfähigkeit mit der subjektiven Abschreckungsfähigkeit gleich.<br />

Das normative Leitbild, an dem sie sich orientierten, war nicht der freie, sondern der durch psychologi-<br />

schen Zwang, respektive durch das angedrohte Strafmass determinierbare Mensch. So betrachtete der<br />

Psychologe Johann Christoph Hoffbauer (1766–1827) den freien Menschen als ein Individuum, das sich<br />

wie ein «Automat» leiten liess: «Der Mensch, der einer solchen Abschreckung fähig, ist dem Criminalisten<br />

frey [...]. Derjenige hingegen, auf den eine solche Abschreckung nicht wirken kann, [...] hat in dem Sinne<br />

des Criminalisten seine Freyheit nicht. Es sey, würde er sagen, dass der Mensch in seinen Handlungen<br />

zwar als einen Automat zu betrachten ist, so ist er doch ein Automat, das durch Furcht vor Strafe in Be-<br />

wegung gesetzt, oder in seinen Bewegungen aufgehalten, mit einem Wort, geleitet werden kann.» 159<br />

Der medizinische Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsanspruch<br />

In der Frühen Neuzeit war die Beurteilung zweifelhafter Geisteszustände durch Ärzte noch keineswegs<br />

eine Selbstverständlichkeit. Lange Zeit blieb die Körpermedizin das eigentliche Standbein der Gerichts-<br />

medizin. Die Carolina von 1532 wies die Richter an, in zweifelhaften Fällen an die zuständigen Oberhöfe<br />

<strong>und</strong> juristischen Fakultäten zu gelangen. 160 Den Anspruch der Ärzte auf die Begutachtung geistesgestörter<br />

StraftäterInnen formulierte dagegen erstmals explizit der päpstliche Leibarzt Paolo Zachia (1584-1659) in<br />

seinen 1621 erschienenen Questiones medico-legales. Zachias Forderung wurde von der Gerichtsmedizin je-<br />

doch erst im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert auf breiter Front aufgegriffen. Der Arzt Johann Zacharias Platner (1694–<br />

156 Friedreich, 1835, 76. Die Begriffe der Freiheit <strong>und</strong> des Staatsbürgers, wie sie Friedreich <strong>und</strong> andere deutsche Straftheoretiker<br />

der 1830er Jahre verwendeten, implizierte allerdings nicht zwangsläufig auch eine politische Mitbestimmung; vgl. Ludi, 1999, 295.<br />

157 Friedreich, 1835, 272.<br />

158 Deutlich von einer solchen psychologischen Definition unterschied sich der entsprechende Artikel des französischen Code<br />

pénal von 1810: «Il n'y a ni crime ni délit lorsque le prévenu était en état de démence auf temps de l'action, ou lorsqu'il a été<br />

contraint par une force à laquelle il n'a pu résister»; zitiert: Chauvaud, 2000, 263.<br />

159 Hoffbauer, 1823, 12.<br />

160 Artikel 219 der Peinlichen Gerichtsordnung von 1532, zitiert: Buschmann, 1998, 177.<br />

44

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!