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Psychiatrie und Strafjustiz

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Projekt ab. Resigniert verzichtet die Zürcher Regierung darauf auf «die weitere Verfolgung des Pro-<br />

jekts». 1279<br />

Mit den kantonalen Verwahrungsgesetzen <strong>und</strong> dem Projekt für eine Verwahrungsanstalt in der Linthebe-<br />

ne zeichnete sich in der Zwischenkriegszeit für die <strong>Psychiatrie</strong> die Möglichkeit ab, «Grenzfälle», die im<br />

Anstaltsbetrieb, so Ris in seinem Gutachten, wie «Fremdkörper» wirkten, wieder an den Strafvollzug ab-<br />

zugeben. Zum Prototyp dieses Personenkreises wurde der «psychopathische unverbesserliche Gewohn-<br />

heitsverbrecher». Wie in Kapitel 8 gezeigt worden ist, lassen sich analoge Demedikalisierungstendenzen<br />

auch in der Berner Justizpraxis nachweisen. 1280 Solche Abschiebetendenzen wurden in der Zwischen-<br />

kriegszeit durch Entwicklungen innerhalb der Anstaltspsychiatrie noch zusätzlich verstärkt. Damals ver-<br />

fügte die <strong>Psychiatrie</strong> erstmals über verschiedene Behandlungsmethoden gegen organische <strong>und</strong> funktionelle<br />

Psychosen. 1281 Damit wandelte sich zugleich der Charakter der psychiatrischen Anstalten von Versor-<br />

gungs- zu Behandlungsinstitutionen. Seit 1917 stand mit der Malaria-Fieberkur ein Mittel gegen die Pro-<br />

gressive Paralyse zur Verfügung. 1920 entwickelte Jakob Klaesi (1883–1980) am Burghölzli die Schlafkur,<br />

welche die Ansprechbarkeit hochgradig schizophrener Patienten massiv verbesserte. Schweizer Psychiater<br />

zeigten sich – wie im Fall der Psychoanalyse – den neuen Behandlungsmethoden ausgesprochen aufgeschlossen.<br />

Das Burghölzli führte die Malariatherapie 1922, die Berner Anstalten ein Jahr später ein. Auch<br />

Klaesis Schlafkur wurde in Bern mit Interesse aufgegriffen. 1282 Einen weiteren Schub an therapeutischem<br />

Enthusiasmus bewirkten in der zweiten Hälfte der 1930er Jahren so genannte Schocktherapien. Seit 1933<br />

versuchte der Wiener Psychiater Manfred Sakel (1900–1957), durch eine mittels Insulinabgabe herbeige-<br />

führte Hyperglykämie Heilungserfolge bei Schizophrenie zu erzeugen. Max Müller überprüfte Sakels Me-<br />

thode 1935 in Münsingen. Seine Versuche verzeichneten unerwartete Erfolge, so dass die Insulinschock-<br />

therapie nach <strong>und</strong> nach von andern Schweizer Anstalten übernommen wurde. Kurz darauf ergänzten<br />

Versuche mit Cardiazol <strong>und</strong> Elektroschock das Experimentieren mit Insulin. Im Mai 1937 führte Müller<br />

im Namen der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> in Münsingen eine Tagung über die somatische Be-<br />

handlung der Schizophrenie durch, bei der ein internationales Publikum die verfügbaren Schocktherapien<br />

ausführlich diskutierte. 1283 Das therapeutische Engagement der Schweizer Psychiater kam auch in ver-<br />

schiedenen Referaten vor den kantonalen Hilfsvereinen zum Ausdruck. Darin wurde die Überwindung<br />

des «therapeutischen Nihilismus» gefeiert <strong>und</strong> eine Veränderung des «Charakters der Irrenanstalten» pos-<br />

tuliert. 1284 Mit dem Einrichten spezieller Stationen für die somatischen Therapien <strong>und</strong> mit den ersten Behandlungserfolgen<br />

bei bisher als aussichtslos geltenden Fällen glaubten die Psychiater, einen wichtigen<br />

Schritt zur Gleichstellung ihrer Disziplin mit der übrigen Medizin vollzogen zu haben.<br />

Die Auswirkungen der somatischen Therapien auf die psychiatrischen Anstalten wurden durch die Neu-<br />

ausrichtung der psychiatrischen Anstaltstechnologie in den 1920er Jahren verstärkt. Mit dem Schlagwort<br />

der «aktiven Therapie» hatte der deutsche Psychiater Hermann Simon (1867–1947) 1923 eine Reform der<br />

Anstaltsbehandlung gefordert. Simon plädierte für eine Ausweitung der Arbeitstherapie auf alle Anstaltspatienten,<br />

für die Schaffung einer ruhigen <strong>und</strong> wohnlichen Umgebung in der Anstalt <strong>und</strong> für eine Stär-<br />

kung der Verantwortlichkeitsgefühls der Patienten aus. Mittels strenger, aber nicht gewaltsamer Erziehung<br />

sollten die Anstaltspatienten zur Führung eines an «normalen» Massstäben orientierten Lebenswandels<br />

1279 StAZH P 404, Band 18, Protokoll des Regierungsrats des Kantons Zürich, 22. Dezember 1928.<br />

1280 Vgl. Kp. 8.2.<br />

1281 Vgl. Shorter, 1999, 291-343; Braslow, 1997; Haenel, 1982, 51-55.<br />

1282 Müller, 1982, 16 f., 42; Bleuler, 1951, 396f. Zu Klaesis Schlafkur: Windholz/Witherspoon, 1993. Zur Rezeption der Psychoanalyse<br />

durch die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>: Wieser, 2001; Wieser, 2000; Sprecher, 2000.<br />

1283 Müller, 1982, 144-150, 168-173.<br />

1284 Vgl. Briner, 1937; Schiller, 1943.<br />

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