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Psychiatrie und Strafjustiz

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prinzip orientierten Strafparadigmas trat die Vorstellung einer regulativen Kriminalpolitik, die im materiel-<br />

len Strafrecht ein flexibles Instrument für eine effiziente Verbrechensbekämpfung sah. Die von den Kri-<br />

minalanthropologen <strong>und</strong> Strafrechtsreformern propagierten Konzepte waren zugleich Teil der im letzten<br />

Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts definitiv vollzogenen «Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft»<br />

(Adalbert Evers/Helga Nowotny). Die Reformer sahen in kriminellem Verhalten nicht einfach mehr nur<br />

Verstösse gegen Rechtsnormen, deren Gültigkeit es symbolisch zu bestätigen galt, sondern ein potenziel-<br />

les Risiko für den Fortbestand von Rechtsordnung <strong>und</strong> Gesellschaft, das es präventiv zu bearbeiten, zu<br />

regulieren <strong>und</strong> zu minimieren galt. 334 Deutsche Strafrechtsreformer wie von Liszt betonten die Parallele<br />

der neuen Kriminalpolitik mit einer auf die Lösung der «sozialen Frage» ausgerichteten interventionisti-<br />

schen Socialpolitik: «Dieselbe grosse geistige Strömung, die uns die Sozialpolitik gebracht hat, hat uns auch<br />

den Begriff der Kriminalpolitik gebracht. Unsere moderne strafrechtliche Schule erscheint als Übertragung<br />

wirtschaftlicher <strong>und</strong> politischer Gedanken <strong>und</strong> Forderungen auf unser spezielles Arbeitsgebiet. Sie fordert<br />

[...] bewusste Zwecksetzung von Seiten des Staates, ein bewusstes Eingreifen in das freie Spiel der Kräfte;<br />

sie stellt an den Staat das Verlangen, den einzelnen, solange es möglich ist, zu schützen, zu heben, wieder<br />

anzupassen [...] <strong>und</strong> die Gesamtheit zu schützen, wenn es nötig ist, gegen den einzelnen, der anpassungs-<br />

unfähig ist, indem man ihn aus der Gesellschaft ausscheidet.» 335 Die Idee einer regulativen Kriminalpolitik,<br />

der die staatliche «Zwecksetzung» der Verbrechensbekämpfung zugr<strong>und</strong>e lag, rechtfertigte in den Augen<br />

der Strafrechtsreformer eine Relativierung des Legalitätsprinzips <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>satzes der individuellen<br />

Verantwortlichkeit. So war es nur konsequent, dass sie in einem teilweise medikalisierten Massnahmen-<br />

recht, das integrative <strong>und</strong> ausschliessende Massregeln kombinierte, ein probates Mittel sahen, um das bür-<br />

gerliche Strafrecht den Anforderungen einer arbeitsteiligen Industrie- <strong>und</strong> Klassengesellschaft anzupassen.<br />

Mit solchen Reformkonzepten verb<strong>und</strong>en war eine Neuausrichtung der interdisziplinären Zusammenarbeit<br />

zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>, die sich künftig über die traditionelle Frage der Schuldfähigkeit<br />

auf das Gebiet der Behandlung <strong>und</strong> Verwahrung von StraftäterInnen ausweiten sollte.<br />

Netzwerke <strong>und</strong> Reformvorhaben: die Internationale Kriminalistische Vereinigung<br />

Strafrechtsreformer aus verschiedenen europäischen Staaten organisierten sich 1889 in der Internationalen<br />

Kriminalistischen Vereinigung (IKV). 336 Die IKV diente ihnen einerseits als Plattform für die Diskussion kon-<br />

kreter Reformanliegen, andererseits als wichtiges Bindeglied für die internationale Vernetzung der Re-<br />

formbewegung. Die Landesgruppen der IKV, denen sowohl reformwillige Juristen, als auch Sozialrefor-<br />

mer, Mediziner <strong>und</strong> Politiker angehörten, trieben zudem Strafrechtsreformen auf nationaler Ebene voran.<br />

Gegründet wurde die IKV durch Franz von Liszt, den belgischen Juristen <strong>und</strong> Gefängnisinspektor Adol-<br />

phe Prins sowie den holländischen Strafrechtler Gerard van Hamel (1842–1917). Wie von Liszt so enga-<br />

gierten sich auch Prins <strong>und</strong> van Hamel auf nationaler Ebene für eine Umgestaltung des tatfixierten<br />

Schuldstrafrechts. Namentlich Prins fasste zentrale Anliegen der Reformbewegung wie das von Garofalo<br />

konzipierte sanktionsbestimmende Kriterium des état dangereux in seiner 1910 veröffentlichten Studie La<br />

défense sociale et les transformations du droit pénal zusammen. 337<br />

Die IKV war bestrebt, das zunächst von den italienischen Kriminalanthropologen formulierte Strafpara-<br />

digma in einer justiziablen Form weiter zu entwickeln. In ihren Statuten bekannte sie zu einer regulativen<br />

334 Vgl. Evers/Nowotny, 1987, 32-40. Zur «Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft» in Bezug auf die soziale Frage: Ebd.,<br />

118-143; zur Sozialreform im deutschen Kaiserreich: Bruch, 1985. Der Begriff einer «regulativen Kriminalpolitik» lässt sich auf<br />

Foucaults Konzept der «Bio-Macht» zurückführen. Vgl. Taeger, 1999, 123-146; Lemke, 1997, 234-238; Foucault, 1977, 171f.<br />

335 Votum von Liszts auf der Versammlung der deutschen Landesgruppe der IKV am 25. Mai 1912, in: Mitteilungen der Internationalen<br />

Kriminalistischen Vereinigung, 19, 1912, 378f., zitiert: Naucke, 1982, 236f.<br />

336 Vgl. Bellmann, 1994; Radzinowicz, 1991; Tulkens, 1986, XII-XVI; Kitzinger, 1905.<br />

337 Prins, 1910.<br />

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