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Psychiatrie und Strafjustiz

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sätzlich als strafbar, aber «nicht wegen der Tat im unfreien Zustande, sondern wegen des unfreien Zustan-<br />

des selbst, in den er sich versetzte». Konsequenterweise plädierte er für die Nichtanerkennung der «Manie<br />

ohne Delirium»; nur deren konsequente Ablehnung könne, «dem bisherigen Schwanken bei gerichtsärztli-<br />

chen Entscheidungen eine Grenze […] setzen». Allerdings räumte auch Heinroth ein, dass Personen, de-<br />

ren Unfreiheit durch (selbst verschuldete) organische Zustände bedingt sei, vor Gericht als unzurech-<br />

nungsfähig zu beurteilten seien. 216 Heinroth <strong>und</strong> Henke, aber auch Juristen wie Regnault <strong>und</strong> Jarcke sahen<br />

in der Annahme einer isolierten Schädigung der Willensfreiheit letztlich ein gefährliches Zurückdrängen<br />

der normativen Selbstbestimmungsfähigkeit des Bürgersubjekts. Eine teilweise Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens, wie es die Befürworter der «Manie ohne Delirium» propagierten, drohte in ihren Augen die<br />

Gr<strong>und</strong>feste des Schuldstrafrechts <strong>und</strong> die gesetzlich verbriefte Kompetenz der Justiz zu erschüttern.<br />

Trotz der teilweise heftigen Kritik vermochten sich die Spezialmanien im Justizalltag bis in die zweite<br />

Jahrh<strong>und</strong>erthälfte hinein zu behaupten. 217 Innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong> geriet die Theorie einer isolierten<br />

Schädigung des Willens allerdings bereits in den 1850er Jahren unter Druck. So diskutierten die französi-<br />

schen Psychiater zwischen 1852 <strong>und</strong> 1854 intensiv über den Begriff der «Monomanie». Resultat dieser<br />

Debatten war, dass die <strong>Psychiatrie</strong> die Annahme einer allein auf den Willen beschränkte Geistesstörung<br />

zunehmend aufgab. 218 Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, rückten unter dem Eindruck der in<br />

den 1850er Jahren entstehenden Degenerationstheorie vermehrt Deutungsmuster kriminellen Verhaltens<br />

ins Zentrum, die von einer anlagebedingten «krankhaften Konstitution» ausgingen, die nicht mehr einzel-<br />

ne «Seelenvermögen», sondern die ganze Persönlichkeit affizierte. Solche Deutungsmuster sollten vor<br />

allem im letzten Viertel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in Form der Theorie des «geborenen Verbrechers» <strong>und</strong><br />

schliesslich im folgenreichen Konzept der «psychopathischen Persönlichkeit» eine Weiterentwicklung<br />

erfahren. Um die Wende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sahen die Psychiater jedenfalls in der Monomanielehre nur<br />

noch ein Relikt aus der Geschichte ihrer Disziplin. 219 Die Deutungsmuster, welche die Spezialmanien in<br />

der zweiten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte ablösen sollten, besassen jedoch durchaus Vorläufer. So behauptete der<br />

Hamburger Philosophieprofessor Johann Christian Grohmann (1769–1847) bereits 1819 das Vorkommen<br />

einer «Desorganisation des freien Willens», die primär das Empfinden <strong>und</strong> das Gewissen beeinträchtigen<br />

würde. Solche «moralische Krankheiten» äusserten sich nach Grohmann in einem «moralischen Stumpf-<br />

sinn, einer «angeborenen Indolenz» gegenüber sittlichem Empfinden, oder in einer «Anlage zur Brutalität»,<br />

die der «Affektartigkeit der tierischen Natur» des Menschen freien Lauf lassen würde. Handlungen, die<br />

von solchen «abnormalen Charakteren» begangen würden, könnten ihren UrheberInnen indessen nicht<br />

zugerechnet werden. 220 Grohmanns «Krankheiten des Willens» kündeten eine neue Qualität der Pathologi-<br />

sierung kriminellen Verhaltens an. Sie betrafen nicht mehr nur isolierte psychische Funktionen, sondern<br />

den ganzen «Charakter» <strong>und</strong> beruhten auf einer unveränderlichen angeborenen «Anlage». Die animalische<br />

Triebhaftigkeit, die Grohmann seinen «Willenskranken» zuschrieb, entzog letztlich dem Postulat der «Er-<br />

fahrungsseelenk<strong>und</strong>e» nach subjektiver Einfühlung den Boden. Zugleich nahm Grohmann den missver-<br />

ständlichen Begriff der moral insanity <strong>und</strong> des «moralischen Schwachsinns» vorweg, dessen Begründung in<br />

der Regel dem englischen Psychiater James Cowles Prichard (1785–1848) zugeschrieben wird. 221<br />

216 Heinroth, 1825, 326, 331, 333f, 329.<br />

217 Zum französischen Sprachraum: Chauvaud, 124-129; Barras, 1991. Skeptischer, was die Durchsetzung der Spezialmanien im<br />

deutschen Gerichtsalltag betrifft: Kaufmann, 1995, 332; Schulte, 1989, 97f.<br />

218 Harris, 1989, 59-64; Goldstein, 1987, 189-196.<br />

219 Vgl. Bleuler, 1898, 4.<br />

220 Grohmann, 1819, 158f., 161, 163, 167, 169. Zu Grohmann: Meichtry, 1994, 78-91. Zur Rezeption Grohmanns: Heinroth,<br />

1825, 326-328; Friedreich, 1835, 551-554.<br />

221 Smith, 1981, 38f.; Werlinder, 1978, 36-48. Prichard definierte moral insanity 1835 als: «Madness consisting in a morbid perversion<br />

of the natural feelings, affections, inclinations, temper, moral dispositions, and natural impulses, without any remarkable<br />

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