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Psychiatrie und Strafjustiz

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Eine ähnlich skeptische Variante der bürgerlichen Willenssemantik führte Bleuler im M<strong>und</strong>e, als er 1896<br />

lapidar feststellte: «Einen freien Willen gibt es überhaupt nicht.» 492<br />

Forel teilte die Meinung der Strafrechtsreformer, dass das Axiom der Willensfreiheit in der Justizpraxis zu<br />

paradoxen Konsequenzen führen müsse. Das Prinzip der Proportionalität von Schuld <strong>und</strong> Strafe habe zur<br />

Folge, dass psychisch «abnorme» <strong>und</strong> mehrfach rückfällige DelinquentInnen auf Kosten der öffentlichen<br />

Sicherheit zu milde bestraft würden: «Bekanntlich sind aber gerade die meisten Rückfälligen geistig am<br />

abnormsten, moralisch am defektesten. Ihre Unverbesserlichkeit zeigt gerade, dass ihr Wille schwächer,<br />

gröber geb<strong>und</strong>en ist, unfähiger sich an den Gesetzen anzupassen. Folglich sollte von diesem Standpunkt<br />

aus der Rückfall strafmildernd wirken.» Wie Ferri oder von Liszt aktivierte Forel den Topos des «unver-<br />

besserlichen Gewohnheitsverbrecher», um die Ineffizienz des geltenden Schuldstrafrechts zu demonstrie-<br />

ren. Forel ging mit den Kriminalanthropologen <strong>und</strong> Psychiatern wie Kraepelin einig, dass sich diese ver-<br />

meintlichen Widersprüche nur durch eine konsequente Umgestaltung des Strafrechts zu einem umfassen-<br />

den «Schutzrecht» der Gesellschaft gegenüber abweichenden Individuen auflösen liessen. Forel wurde<br />

nicht müde, eine radikale Reform des Strafrechts zu fordern, die anstelle der schuldhaft begangenen Taten<br />

die «Gefährlichkeit» der TäterInnen ins Zentrum stellte <strong>und</strong> sich an den Prinzipien der Besserung <strong>und</strong> der<br />

«Unschädlichmachung» orientierte. 493 Auch Bleuler betonte die wissenschaftliche <strong>und</strong> praktische Unhalt-<br />

barkeit des Schuldprinzips: «Wir dürfen also getrost die Schuld eines Verbrechers negieren <strong>und</strong> ihn den-<br />

noch unschädlich machen, denn das ‹Recht› dazu fehlt uns nicht, sobald wir die Notwendigkeit nachge-<br />

wiesen haben <strong>und</strong> notwendig ist es, den Schutz der Gesellschaft auf eine andere Basis zu stellen, nachdem<br />

die Theorie von Schuld <strong>und</strong> Sühne ins Wanken geraten <strong>und</strong> der praktische Schutz, den sie gewährt, als<br />

ungenügend dargetan worden ist. Wir treten also einem Verbrecher nicht deshalb gegenüber, weil er eine<br />

Schuld auf sich hat, sondern weil er die Ursache eines Übels ist, gerade wie wir einen reisenden Bach ein-<br />

dämmen oder einen pathogenen Bazillus bekämpfen.» 494 Als Ersatz für das geltende Schuldstrafrecht<br />

schwebte Bleuler ein individualisierendes Massnahmenrecht vor, das sich nach den (medizinischen) Krite-<br />

rien der «Gefährlichkeit» <strong>und</strong> der «Heilbarkeit» richtete. Aufgr<strong>und</strong> einer «längeren Beobachtung» durch<br />

Psychiater <strong>und</strong> Gefängnisbeamte gelte es zunächst, «gefährliche» <strong>und</strong> «ungefährliche» DelinquentInnen zu<br />

trennen. Im Fall der letzteren könne man sich mit einer bedingten Strafe begnügen. «Gefährliche» Delin-<br />

quentInnen seien zusätzlich in «Heilbare» <strong>und</strong> «Unheilbare» zu sondern, wobei die erste Gruppe durch<br />

«Pädagogik, Hygiene <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>» zu therapieren sei. Die Gruppe der «Unheilbaren» sei dagegen dau-<br />

erhaft «möglichst human zu detenieren <strong>und</strong> noch so weit als möglich zu disziplinieren». Den traditionellen<br />

Strafen billigte Bleuler dagegen nur noch eine begrenzte Funktion als Abschreckungsmittel zu. 495<br />

Psychiatrische Kriminalpolitiker wie Forel oder Bleuler sahen sich als Vorreiter einer rationalen <strong>und</strong> ar-<br />

beitsteiligen Kriminalitätsbewältigung, die wissenschaftlich legitimierten Experten, namentlich aber den<br />

Psychiatern selbst, eine zentrale Rolle bei der Klassifikation, Behandlung <strong>und</strong> «Unschädlichmachung» von<br />

DelinquentInnen einräumte. Durch eine humanwissenschaftlich f<strong>und</strong>ierte Kriminalpolitik sollten populäre<br />

Vorurteile, wie sie Gautier in seiner Berichterstattung über die «Affaire Blanc» beklagt hatte, überw<strong>und</strong>en<br />

werden. Kriminelles <strong>und</strong> abweichendes Verhalten wurde in einer solchen Perspektive als (sozial-) medizi-<br />

nisches Problem definiert, das mittels medizinischer Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten bewältigt<br />

<strong>und</strong> zum Verschwinden gebracht werden sollte. Ihre Mitwirkung als Experten im Strafverfahren, im Straf-<br />

vollzug <strong>und</strong> bei der Gesetzgebung erschien den psychiatrischen Kriminalpolitikern als selbstverständliche<br />

492 Bleuler, 1896, 53.<br />

493 Forel, 1889, 17; Forel, 1906, 396-398, 427-431; Forel, 1907.<br />

494 Bleuler, 1896, 61.<br />

495 Bleuler, 1896, 73-75.<br />

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