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Psychiatrie und Strafjustiz

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<strong>und</strong> die Justizbehörden. Dies entspricht 7,0% der berücksichtigten Fälle. In acht Fällen handelte es sich<br />

um eine Erkennung auf verminderte Zurechnungsfähigkeit durch das Gericht, wo die psychiatrischen<br />

Sachverständigen auf völlige Unzurechnungsfähigkeit bef<strong>und</strong>en hatten. Nur in einem Fall erklä rte ein<br />

Gericht eine Frau, die als unzurechnungsfähig begutachtet worden war, als vollständig zurechnungsfähig.<br />

In fünf Fällen verneinten die Gerichte die von den Experten eingebrachte verminderte Zurechnungsfä-<br />

higkeit. Von diesen fünf Personen erhielten dagegen drei mildernde Umstände zugebilligt. In zwei Fällen,<br />

die ebenfalls Frauen betrafen, erkannten die Gerichte auf Unzurechnungsfähigkeit, obwohl die Experten<br />

lediglich von einer verminderten Zurechnungsfähigkeit ausgegangen waren.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieses Datenmaterials traten Differenzen zwischen den psychiatrischen Sachverständigen <strong>und</strong><br />

den Justizbehörden im Kanton Bern in einer vergleichsweise geringen Zahl von Fällen auf. Ein Vergleich<br />

mit den in Kapitel 7 systematisch ausgewerteten Einzelfällen, wo sich eine Übereinstimmungsquote von<br />

r<strong>und</strong> 70% feststellen lässt, lässt darauf schliessen, dass die hier errechnete Übereinstimmungsquote von<br />

93% in der Realität etwas tiefer gewesen sein dürfte. Im Sinne eines Richtwerts ist davon auszugehen, dass<br />

psychiatrische Sachverständige <strong>und</strong> die Justizbehörden im Kanton Bern in r<strong>und</strong> vier Fünftel der Fälle zu<br />

einer übereinstimmenden Einschätzung der Zurechnungsfähigkeit gelangten. Dieser Bef<strong>und</strong> deckt sich<br />

weitgehend mit den Ergebnissen der Studie von Martin Lengwiler, die für den Fall der bayerischen Militär-<br />

justiz eine «Interessenkonvergenz zwischen Psychiatern <strong>und</strong> Militärrichtern» von über 90% festgestellt<br />

hat. 758 Solche statistisch signifikanten Konvergenzen belegen einen vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende einsetzen-<br />

den Trend zu einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung in der Justizpraxis. Wie gezeigt worden ist,<br />

ging dieser mit einer beträchtlichen Ausweitung der psychiatrischen Begutachtungspraxis einher.<br />

Statistische Nachweise sagen indes wenig über die Bedeutung aus, die einzelne Psychiater allfälligen Beur-<br />

teilungsdifferenzen zwischen Justiz <strong>und</strong> Sachverständigen beimassen. So diente auch in der Schweizer<br />

Strafrechtsdebatte der Topos des verkannten Gutachtens Psychiatern wie Auguste Forel oder Ludwig<br />

Frank dazu, Kompetenzansprüche gegenüber der <strong>Strafjustiz</strong> empirisch zu untermauern. Dass solche Fälle<br />

in der Justizpraxis eher Ausnahmen waren, blieb dagegen meist ungesagt. Die Berner Psychiater äusserten<br />

sich indes nach 1910 zunehmend zurückhaltender, was Differenzen zwischen Sachverständigen <strong>und</strong> Jus-<br />

tizbehörden anbelangte. So liess 1911 die Direktion von Münsingen wissen: «Wir können uns über die<br />

zeitweilige Nichtübereinstimmung von Sachverständigen <strong>und</strong> Richtern leicht trösten. Jeder Teil arbeitet<br />

nach bestem Wissen <strong>und</strong> Gewissen <strong>und</strong> hat für seinen Entscheid die Verantwortung zu tragen.» Drei Jah-<br />

re später sprach Ulrich Brauchli sogar vom «grossen <strong>und</strong> zunehmenden Verständnis der Juristen in psy-<br />

chologischen <strong>und</strong> psychopathologischen Fragen», allerdings nicht ohne zugleich eine Ausnahme von die-<br />

ser Regel massiv zu kritisieren. 759 Es scheint, als hätten die Berner Psychiater nun auch auf der rhetori-<br />

schen Ebene den Schritt zur engen Kooperation mit der <strong>Strafjustiz</strong> vollzogen, die sie in der Praxis bereits<br />

seit Jahren pflegten.<br />

6.5 Fazit: Die Wirksamkeit des forensisch-psychiatrischen Dispositivs<br />

Die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern erfuhr zwischen 1885 <strong>und</strong> 1920 eine beträchtliche<br />

Ausweitung. Diese Entwicklung widerspiegelt das Potenzial des forensisch-psychiatrischen Dispositivs im<br />

Hinblick auf eine teilweise Medikalisierung kriminellen Verhaltens. Im Untersuchungszeitraum avancierten<br />

die Ärzte der kantonalen Irrenanstalten zu regelmässigen Partnern der Justizbehörden. Der Beizug psychi-<br />

atrischer Sachverständiger zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit entwickelte sich um die<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende zu einen gefestigten, wenngleich nach wie vor auf Ausnahmefälle beschränkten Hand-<br />

758 Lengwiler, 2000, 239.<br />

759 Jb. Waldau, 1911, 50; 1914, 48.<br />

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