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Psychiatrie und Strafjustiz

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isch untersuchten Häftlinge. 1950 wurde schliesslich knapp ein Viertel der registrierten Häftlinge zur<br />

Sprechst<strong>und</strong>e überwiesen. 1588<br />

Die folgende Analyse der Sprechst<strong>und</strong>enpraxis stützt sich auf einen Korpus von Untersuchungsberichten,<br />

der im Staatsarchiv Bern überliefert ist. 1589 Aus den r<strong>und</strong> 400 von Jakob Wyrsch verfassten Berichten <strong>und</strong><br />

Gutachten der Jahre 1943–1948 wurden nach einer vollständigen Sichtung 20 Fallbeispiele zur Analyse<br />

ausgewählt. Die Sprechst<strong>und</strong>enberichte stellen zwar insofern einen isolierten Quellenkorpus dar, als sie<br />

primär die Perspektive des Psychiaters wiedergeben. Dennoch enthalten sie häufig Angaben über die Hin-<br />

tergründe der einzelnen Untersuchungsaufträge. Die Berichte widerspiegeln dadurch ebenfalls die Wis-<br />

sensbedürfnisse der Anstaltsleitung <strong>und</strong> ihre Erwartungen an den Psychiater. Die Berichte enthalten aber<br />

auch Angaben über die Aussagen <strong>und</strong> das Verhalten der untersuchten Häftlinge. Wie noch zu zeigen sein<br />

wird, reproduzierten Wyrschs Berichte häufig wörtliche Aussagen der Exploranden, so dass die Filterwir-<br />

kung der Berichterstattung durch den Psychiater nicht allzu hoch eingeschätzt werden darf. Dies heisst<br />

jedoch nicht, dass die Berichte gleichsam eine authentische Erfahrung hinter der Strafvollzugspraxis sicht-<br />

bar machen würden. Sowohl Psychiater wie Häftlinge sahen sich diskursiven <strong>und</strong> institutionellen Konditi-<br />

onierungen unterworfen, die von vornherein ein «freies» Sprechen ausschlossen. Dies war nicht zuletzt die<br />

Folge davon, dass die Sprechst<strong>und</strong>en im Kontext stark asymmetrischer Interaktions- <strong>und</strong> Machtverhält-<br />

nissen stattfanden, die – analog zur forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis im Strafverfahren –<br />

stark von institutionellen <strong>und</strong> in der Regel auch sozialen Ungleichheiten geprägt waren. Dem Psychiater<br />

aus bürgerlicher Herkunft standen meist delinquente Angehörige der Unterschichten gegenüber, die den<br />

institutionellen Zwängen des Strafvollzugs unterworfen waren. Allerdings war diese Asymmetrie keines-<br />

wegs absolut. Wie die Analyse der Sprechst<strong>und</strong>enberichte zeigt, verfügten die zur Untersuchung überwie-<br />

senen Häftlinge selbst im Umfeld einer «totalen Institution» (Erving Goffmann) wie der Strafanstalt über<br />

Handlungskompetenzen. Einigen Häftlingen eröffnete die Möglichkeit, unter vier Augen mit einem Psy-<br />

chiater zu sprechen, sogar zusätzliche Handlungsoptionen. In den meisten Fällen waren sowohl die An-<br />

staltsleitung, als auch die einzelnen Häftlinge bereit, auf das medizinische Gesprächs- <strong>und</strong> Behandlungsan-<br />

gebot einzugehen, wenngleich oft aus unterschiedlichen Motivationen. Wenn im Folgenden die Sprech-<br />

st<strong>und</strong>enpraxis in Witzwil als Beispiel für die Ausweitung des forensisch-psychiatrischen Tätigkeitsbereich<br />

nach der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs untersucht wird, geschieht dies durch die Aus-<br />

differenzierung dreier Perspektiven, die den unterschiedlichen Positionen <strong>und</strong> Erwartungen der beteiligten<br />

Akteure – Anstaltsleitung, Häftlinge <strong>und</strong> Psychiater – Rechnung tragen.<br />

Die Perspektive der Anstaltsleitung: Psychische Auffälligkeiten <strong>und</strong> Vollzugsempfehlungen<br />

In Überwachen <strong>und</strong> Strafen hat Michel Foucault auf die Verschränkung von Disziplinarmacht <strong>und</strong> Wissens-<br />

produktion in Institutionen wie dem Gefängnis hingewiesen. Das Gefängnissystem, wie es sich in der<br />

ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herausgebildet hatte, funktioniere, so Foucault, als Apparat, der über<br />

den blossen Vollzug von Freiheitsstrafen hinaus ein Disziplinarwissen über kriminell gewordene Men-<br />

schen produziere. Dieses spezifische Wissen legitimiere Aussagen über die «Natur» der inhaftierten Indi-<br />

viduen <strong>und</strong> liefere so Gr<strong>und</strong>lagen für behördliche Vollzugsentscheide wie Entlassungen, Verlegungen,<br />

Disziplinarstrafen oder Vergünstigungen. 1590 Zusätzlich akzentuiert wurde die von Foucault festgestellte<br />

behördliche Nachfrage nach adäquatem Straf- <strong>und</strong> Disziplinarwissen durch die verschiedenen Strafvoll-<br />

zugsreformen im Laufe des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. So war die erwähnte Einführung eines «kriminalbio-<br />

1588 Jb. Witzwil, 1944, 1950.<br />

1589 StAB BB 4.2, Band 180.<br />

1590 Foucault, 1976. Zur Entstehung des modernen Strafvollzugs: Nutz, 2001.<br />

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